Ruth - Page 41

Bild von Lou Andreas-Salomé
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er sich selbst, als er da in der Halbdämmerung auf dem untersten Treppenabsatz zögerte.

Nur langsam nahm er die ersten Stufen, dann rasch die nächsten.

Wie lange, lange war er nicht mit Ruth allein gewesen, – ganz allein. – –

Oben klopfte er kurz und laut an. Ruth antwortete mit heller Stimme. Sie stand vor dem geöffneten Wandschrank, worin sich ihre Sachen befanden, und kramte darin.

Außer einem Tisch und Stuhl am Fenster enthielt das kleine Gemach nicht viel mehr als am ersten Tage. Aber das Fensterbrett war mit Blumen gefüllt, mit gewöhnlichen Sommerblumen, wie sie die Straßenhändler auf einem Kopfbrett vorübertrugen, und darunter standen am Boden Töpfe mit Ablegern aus dem Garten. Und die Tapetenwand war mit Bleistiftzeichnungen bedeckt, die als Rahmen einen breiten Tintenrand erhalten hatten. Sie rührten alle von Jonas' Hand her und stellten alle irgendeinen Winkel des Gartens oder des Hauses dar.

Erik sah auf den Tisch nieder, wo Nähzeug und Papiere unordentlich durcheinander lagen.

Es fiel Ruth nicht ein, zu fragen, weshalb er heraufgekommen sei, aber in der leichten Verlegenheit, die er selbst empfand, suchte er nach einem Wort und zog eins der Papiere unter dem Nähzeug hervor.

»Schreibst du hier Verse?« fragte er überrascht.

Sie wurde dunkelrot.

»Nicht mehr so oft,« antwortete sie fast bestürzt, »und ich will ja auch gar nicht! Aber manchmal, wenn – – manchmal muß ich's noch tun.«

»So Verborgenes tun. Verborgen vor mir. Und ich habe geglaubt, daß kein Gedanke unausgesprochen, den ich nicht kenne, durch deinen Kopf geht.«

Sie machte ein so schüchternes Gesicht wie in alten Zeiten.

»Nicht verborgen,« sagte sie leise, »es sind nur eben keine Gedanken. Und aussprechen kann man sie auch nicht. Und die kommen nun und drängen sich, und dann muß man Verse schreiben.«

Erik lachte.

»O weh, die armen Verse!« bemerkte er. »Also solch einen stillen Winkel hast du dir noch in deinem Kopf reserviert, während es aussieht, als ob du die schönste Ordnung gemacht hättest. Die ist wohl nur in den Staatsstuben, auf der Oberfläche. Dahinter liegt aber eine wunderschöne unergründliche Rumpelkammer. Was sollen wir mit der machen?«

Sie sah ihn ganz ernsthaft an.

»Was Sie wollen,« versetzte sie treuherzig.

»Würdest du denn fraglos tun, was ich will? Auch im geheimsten, was du für dich treibst? Auch im Verborgensten deiner Rumpelkammer? Immer?«

»Immer.«

Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände.

»Und wenn ich sie dir nun ausräumen wollte? Und wenn es zufällig grade dein liebster Winkel wäre? und wenn es nun, irgendwann einmal, vielleicht keine bloße Rumpelkammer mehr wäre, sondern dein glückliches geistiges Zuhause? würdest du auch dann noch ebenso antworten: ›Was Sie wollen‹?«

»Ja!« sagte sie einfach.

Erik machte eine Gebärde, wie wenn er sie in seine Arme ziehen wollte, dann aber ließ er sie frei, trat zurück und ans Fenster, neben dem ein kleiner Bücherbord an der Seitenwand hing.

Ein paar Minuten vergingen.

Ruth sah ihm zu, wie er anscheinend die Titel der Bücher studierte, die in der langsam zunehmenden Dämmerung nicht mehr zu erkennen waren. Aber Erik wußte ungefähr, was sich hier alles auf das sonderbarste einträchtig zusammengefunden hatte. Eine lateinische Grammatik aus Jonas' Nachlaß und die Märchenwelt von Tausend und eine Nacht, eine Auswahl aus Platos Werken in deutscher Übersetzung und ein zerrißner Band alter russischer Volkserzählungen, Überwegs »System der Logik« und die französische Übersetzung des Don Quichote mit den Illustrationen von Doré, und so fort.

»Warum haben Sie nie ein Buch geschrieben?« fragte Ruth plötzlich vom Fenster her.

»Weil ich's nie gekonnt habe. Bücher zu schreiben versteh' ich nicht, Ruth. Und mir schien wohl auch immer: Bücher sind tot, nur das gesprochne Wort lebt. Und ich fürchte, du wirst es auch nie können, nie verstehn, mein armes Mädel.«

»Ich? Ich will auch nicht. Ich möchte was andres.«

»Was möchtest du denn?«

»Ein Märchen erzählen. Ein einziges. Eins, worin alles drin ist. Aber nicht mit Worten.«

»Das würdest du ja auch schreiben oder sprechen, mahlen oder meißeln müssen, wenn du es mitteilen willst.«

»Es muß noch auf bessere Weise gehn,« meinte Ruth.

»Nicht, wenn es für alle sein soll. Sonst kann man es auch wohl einem lieben Menschen an den Augen ablesen.«

»Das ist schon besser,« sagte sie an lehnte ihren Kopf gegen das Fensterkreuz zurück.

Kurze Zeit schwiegen beide.

Die Dämmerung sank tiefer. Auf den Steinfliesen der Terrasse unter ihnen blinkte es hell auf, im Wohnzimmer wurde die Lampe angezündet.

Um den Wipfel der alten Ulme vor dem Fenster spielten die Fledermäuse. Lautlos huschten sie unter dem Dachfirst hervor und flatterten hinter Ruths Rücken im Zickzack hin und her.

Erik stand mit einem Male im Halbdunkel dicht neben ihr. Er hob die Hände und strich leise über ihr Haar hin, so daß sie sich in den weichen lockigen Wellen verloren, und dann blieben sie auf ihren Schultern liegen, und er beugte sich tief über Ruth.

»Sage mir das nicht mehr, – was du vorhin sagtest: daß du immer und fraglos tun würdest, was ich will,« bemerkte er mit gesenkter Stimme, »du sollst mir nicht in jedem Fall und blind folgen. – Ich könnte ja auch ein Unrecht von dir wollen. – Hast du daran nicht gedacht?«

Sie legte sich weit in seinen Arm zurück und schüttelte den Kopf.

Er umfaßte sie fester.

»Und wenn es doch so wäre?« fragte er fast heftig, »was würdest du tun?«

Nun erst blickte Ruth auf und sah ihn lange und ruhig an. Sie schien sich den Fall ernsthaft zu überlegen.

»Unrecht tun!« sagte sie dann laut.

Erik fuhr zusammen. Er murmelte etwas, was sie nicht verstand. Sie aber lachte über das ganze Gesicht.

»Für mich ist immer das das Rechte, was Sie wollen, – niemals ein Unrechtes. Besser weiß ich's nicht. Ich brauch' es aber auch nicht besser zu wissen.«

»Mein armes Kind,« sagte er leise.

Sie richtete sich in seinem Arm hoch. Ein lauschender Ausdruck kam in ihr Gesicht.

»Wer? ich? Warum sagen Sie das?« fragte sie mit veränderter Stimme und machte sich langsam frei. »Was ist das? Warum sagen Sie mir das alles? Ich bin kein armes Kind. Ich bin ja Ihr Kind!«

Und als er nicht gleich antwortete, faßte sie ihn plötzlich an beiden Armen und schüttelte sie mit leidenschaftlicher Kraft. »Bin ich's denn nicht?« fragte sie wild. »Warum soll ich nicht mehr tun, was Sie wollen? Bin ich denn nicht Ihr Kind? Nicht mehr?! Dann

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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