Ruth - Page 45

Bild von Lou Andreas-Salomé
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er nicht eindringen durfte mit gleichem Recht, – mit Gewalt!

Aber ebenso rasch erlosch sie wieder. Ruth konnte nichts geschehn, wenn sie bei seinem Vater war.

Jonas schlich sich hinunter, in das kleine Zimmer von Klare-Bel neben der Wohnstube. Er konnte nicht allein sein.

Dort setzte er sich am Eingang auf die äußerste Kante eines Stuhles und brach in Tränen aus.

»Ruth ist halb tot, Mama!« sagte er außer sich, »ach Mama, sie stirbt! Die Augen hat sie schon zugemacht. Und Papa, – ich weiß nicht, was Papa tut, aber ganz bestimmt tut er ihr weh. Sie darf aber nicht sterben! Vorhin war sie ja noch so vergnügt und raschelte mit mir durch die Blätter im Garten.«

Klare-Bel war nach diesem Bericht nicht weniger erschrocken als er selbst, und mit ängstlicher Spannung warteten sie darauf, ob nicht Erik bald herunterkäme. Aber es dauerte noch geraume Zeit, bis er kam.

»Um Gottes willen, was ist denn mit Ruth geschehen?« rief sie ihm in großer Unruhe entgegen.

»Sei nur ruhig, es war eine Ohnmacht,« versetzte Erik und gab Jonas einen Wink, hinauszugehn. Dann trat er an seine Frau heran und sagte: »Ich mußte Ruth eine Mitteilung machen, auf die sie nicht genügend vorbereitet war. Jetzt mußt auch du es erfahren: Ruth geht schon in diesen Tagen fort. Nach Heidelberg, zu Römer ins Haus.«

Klare-Bel erhob sich ein wenig auf ihren Kissen und sah ihn voll tiefen Staunens an.

»Ist das dein Ernst? Du gibst Ruth aus der Hand? Aber was willst du denn ohne Ruth machen? Kannst du sie denn entbehren?«

»Das muß ich doch können, Bel.«

Im beginnenden Zwielicht vermochte sie seine Züge nicht genau zu erforschen. Aber sie kamen ihr vor wie aus Stein gehauen. Und diesen Ausdruck kannte sie.

»Erik!« sagte sie ängstlich, »tu mir nichts so gewaltsam. Du siehst ja, daß es sie krank macht. – Warum siehst du so hart aus, Erik?«

»Hart?« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn; »für mein Aussehen kann ich nicht. Aber ängstige dich über nichts. Ruth wird morgen gesund sein und auch gefaßt. Für ihre Haltung steh' ich ein. Aber sei gut und freundlich zu ihr. Ich muß auf ein bis zwei Tage verreisen.«

»Verreisen? Du reist fort, Erik? Wohin?«

»Nach Moskau.«

»Zu Frau Römer?« fragte sie lebhaft.

»Ja. Ihr soll sich Ruth anschließen. Und sie wird sich hier wahrscheinlich nicht mehr aufhalten. Ich muß daher alles mit ihr verabreden und besprechen. Mündlich.«

Klare-Bel schwieg. Es wurde dämmerig im Zimmer, und draußen im Flurraum hörte man Jonas unruhig auf und ab gehn.

Da, ganz leise, fühlte Erik seine Hand von Klare-Bel erfaßt.

»Erik!« flüsterte sie, »– laß mich dich bitten: laß sie noch ein Weilchen bei uns. – – – Auch ich werde sie ja vermissen, Erik!«

»Du – – – Bel?«

»Ja. Denn sie hat dich so glücklich gemacht.«

Er zog ihre Hand an sich und an den Mund und küßte sie voll Scham und Ehrfurcht.

»Ich danke dir für diese Bitte. Ich danke dir, Bel. Aber es kann nicht sein.«

Er zog sich zurück, um Ruths Onkel die definitive Entscheidung mitzuteilen. Dann packte er eine Handtasche, und eine Stunde später war er fort. Er reiste noch mit dem Nachtzuge nach Moskau.

*

In dieser Nacht lag Klare-Bel viel wach und dachte an Ruth und an Erik. Sie hatte bestimmt geglaubt, Ruth würde bis zum Spätherbst bei ihnen im Haus und dann, auch im Hause ihres Onkels, nach wie vor in engster Verbindung mit ihnen bleiben. Wie oft hatten sie darüber gescherzt, ob sie nicht später zusammen mit Jonas auf die Universität gehen solle? Erik hatte kein Wort davon gesagt, daß seine Absichten wohl von Anfang an andre waren. Ganz plötzlich kam er jetzt mit ihnen heraus.

Aber Klare-Bel fiel es gewiß nicht ein, Kritik an dieser Handlungsweise zu üben. Da er's so wollte, mußt es wohl gut sein. Gut für Ruth. Er liebte sie so sehr, er konnte nur ihr Bestes dabei im Auge haben. Auch dabei, daß es so unerwartet über sie kam.

Aber gern wäre sie jetzt zu Ruth hinaufgegangen und hätte sie geliebkost und getröstet. Sie nahm sich vor, es den nächsten Tag zu tun. Zum ersten Male fühlte sie eine echt mütterliche Zärtlichkeit für Ruth, – nicht nur das indirekte Interesse, das durch Erik hindurch ging und alles auf ihn bezog. –

Der Morgen war herbstlich und grau, die Terrasse noch feucht von den kalten Nebeln der Nacht. Man mußte das Frühstück im Wohnzimmer einnehmen. Ruth fand sich zur gewöhnlichen Zeit dort ein; sie war blaß und ernst, aber gesund, wie es Erik gesagt hatte, und ganz gefaßt und still.

Als sie, noch vor Jonas, hereinkam, streckte ihr Klare-Bel die Arme entgegen: »Komm zu mir,« sagte sie liebevoll, »sei nicht traurig, denk nicht an die Abreise. Noch bist du hier!«

Ruth sah auf, ohne daß sich eine Miene in ihrem stillen Gesicht verändert hätte, und schüttelte den Kopf.

»Ich bin schon fort!« entgegnete sie.

Diese Antwort ergriff Klare-Bel sehr. Ihr schien, es liege etwas Schmerzlicheres darin als in Klagen und Tränen, – etwas, was schon die bloße Ankündigung der Trennung mit ganzer Wucht als Trennung empfinde und nicht mehr davon los könne.

Sie fühlte heißes Mitleid in sich aufsteigen. Und jetzt kam ihr Erik doch hart vor. Wie konnt' er nur wollen, daß Ruth so von Haus zu Haus, von Hand zu Hand ginge. Unwillkürlich suchte sie nach Worten, die wahrhaft trösten könnten. Gab es keine solchen? In ihrer Ratlosigkeit griff sie nach dem Höchsten, was sie gekannt hatte.

»Wir wissen alle nicht, wo wir bleiben, und was mit uns geschieht,« sagte sie zögernd, »wir wissen's nie. Es steht in Gottes Hand. Aber wir sind auch nie allein, wo wir auch hingehn. Gott ist allgegenwärtig.«

Ruth lächelte flüchtig.

»Ja,« versetzte sie traurig, »was kann es helfen, daß Gott allgegenwärtig ist, wenn es die Menschen doch nicht sind? die Menschen, von denen wir fortgehn.«

Klare-Bel schwieg peinlich berührt. Sie gab es auf, Ruth trösten zu wollen. Wenn diese so etwas sagte, klang es kindisch und vermessen zugleich. Wer mochte darauf antworten?

Über Eriks Abwesenheit äußerte Ruth kein Wort; obgleich er ihr nicht davon gesprochen hatte, wunderte sie sich doch nicht drüber, ihn nicht zu sehen. Es mußte wohl so sein: war doch alles in

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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