Ruth - Page 48

Bild von Lou Andreas-Salomé
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über ihn; wider Erwarten fiel er in einen schweren Schlummer. Aber aufregende und häßliche Träume erfüllten seinen Schlaf, furchtbare Träume, die seinen Körper mit kaltem Schweiß bedeckten.

Er sah Ruth vor sich, gealtert, verwelkt, mit gefurchten Zügen und gekniffenen Lippen, mit Lippen, wie sie eine leere, liebeleere Jugend gibt; er sah sie in einem lächerlichen Bilde, wie in einer Theaterposse als tugendsame hysterische alte Jungfer, mit der unerfüllten Sehnsucht nach Zärtlichkeit im erloschnen Blick. Und da, als er in der Angst des Traumes seine Augen gewaltsam von der Fratze wandte, – fort, einem andern Ruthbilde zu, – da wandelte es sich von ihm – zu nackter, entblößter Schönheit. Nackt sah er Ruth – und schamlos, fremden Männern preisgegeben, – einen weißen Körper, der nicht der ihre war, ein lachendes Antlitz, das nicht das ihre war, – und doch wußte er: es sei Ruth.

Er erwachte mit einem stöhnenden Laut. Und noch aus dem Traume heraus hörte er küssen und lachen.

Aber das leise Stöhnen wiederholte sich, als habe es ein Echo an den Wänden des Zimmers gefunden, und ein unterdrücktes Weinen schlug an Eriks Ohr.

Er richtete sich auf und lauschte.

Das Weinen kam aus Jonas' Bett, das neben der offnen Verbindungstür beider Stuben stand. Man konnte deutlich hören, daß er es in den Kissen zu ersticken suchte.

Erik ermunterte sich völlig. Er machte Licht und näherte sich Jonas' Bett. Als ihn dieser kommen hörte, verkroch er sich nur noch tiefer in seine Decken.

»Hast du Schmerzen?« hörte er den Vater fragen, »bist du kränker geworden?«

»Ich bin nicht krank!« murmelte Jonas, »es ist unnütz, mich mit Gewalt im Bette zu halten. Ich weiß doch alles! Ich weiß jetzt alles! Es hat nichts genützt, es vor mir zu verheimlichen! Und was ich noch nicht wußte, das hab' ich gehört! Ich habe gehorcht und hab' es gehört!«

Erik schwieg einen Augen blick betroffen. »Du sprichst im Fieber,« sagte er dann; »was weißt du denn, was hast du gehört?«

»Daß sie fortgeht! Daß sie morgen fortgeht!« Und er wühlte sich schluchzend in seine Kissen.

Erik tastete nach seinem Gesicht und legte ihm besorgt die Hand auf die trocken brennende Stirn. Aber Jonas stieß die Hand zurück.

»Nein,« sagte er fast keuchend, – »du willst es ja, – du bist ja – schuld, daß sie fortgeht. Vor dir schützen muß ich Ruth, – schützen, denn was weißt du, – wie ihr zumute ist. Du weißt nicht, hast nicht gesehen, – wie sie daliegt die Nächte – halb ausgekleidet an ihrem Bett, – wie gestern.«

Erik preßte die fieberglühende Hand in der seinen zusammen, so daß Jonas die Zähne mit Gewalt aufeinander biß, um den Schmerz zu beherrschen.

»Was hast du – gestern – gesehen?« fragte Erik mit heiserer Stimme.

Jonas setzte sich auf.

»Sie kniete vor ihrem Bett,« sagte er traurig, »vielleicht weinte sie, – oder betete, – so geheimnisvolle Augen hatte sie, – und ich habe mit ihr gewacht – die ganze Nacht, heimlich, oben in der alten Ulme vor der Terrasse.

Erik sprach kein Wort.

Aber nach einer langen Pause hob er die Hand, und leise strich er Jonas über Stirn und Haar. Diesmal wurde die Hand nicht zurückgestoßen. Die sanfte, liebkosende Bewegung des Vaters, der ihn so selten liebkoste, empfand Jonas als ein wortloses Verstehn und Mitfühlen, das ihn um die letzte Fassung brachte.

Und plötzlich warf er die Arme um den Nacken des Vaters. Und wie ein unaufhaltsamer Strom, fieberheiß, halb unverständlich brachen die Worte aus ihm hervor, überstürzten sich und verklangen in einem Stammeln: »Papa, lieber Papa, hilf mir! Ich kann's nicht aushalten, daß sie fortgeht! Ich war böse auf dich, – nimm's nicht übel, – hilf mir! halte sie! Papa! sie bleibt da, wenn du's nur willst. Früher war ich mal eifersüchtig auf Ruth, ich glaubte, daß du sie mehr liebtest als mich. Aber es schadet nichts, wie sehr du sie auch liebst, Papa! Denn ich liebe sie ja auch viel mehr als dich! Mehr als dich! Mehr als alles auf der Welt!«

Erik löste leise die Hände von seinem Nacken und hielt sie fest.

»Nimm dich zusammen!« sagte er halblaut, aber mit der eindringlichen Stimme, der Jonas unbedingt zu folgen gewöhnt war, »du darfst hier nicht liegen und dich so haltlos gehen lassen. Selbst nicht im Fieber. Nimm dich zusammen.«

Fast mechanisch versuchte Jonas zu gehorchen. Er atmete mühsam.

Erik hatte sich auf die Kante des Bettes gesetzt, ohne seine Hände loszulassen.

»Lege dich nieder. Ganz ruhig. Unterdrücke die Unruhe. Komm, mein Junge! strammer! Und nun höre mich: ich will dir helfen, wenn du mir folgst, aber anders, als du denkst. Von Ruth mußt du dich jetzt trennen. Wir alle müssen's. Denn morgen schon reist sie fort, und bis dahin wirst du nicht aufstehn dürfen.«

Jonas fuhr empor.

»Papa! das muß ich! ich springe aus dem Bett! Ihr haltet mich nicht! Ich muß Ruth küssen, – ich muß sie küssen, – wenn sie geht!«

»Mit einem kranken, entzündeten Hals und Fieber wirst du Ruth nicht küssen wollen, hoff' ich,« unterbrach ihn Erik in einem Ton, der jede Widerrede abschnitt, »und du wirst es nicht nur unterlassen, sondern auch alles tun, was ich von dir verlange. Dich vollkommen beherrschen, wenn sie von dir Abschied nimmt. Mit keinem Wort, keiner Heftigkeit, keinem einzigen klagenden Ton es ihr noch erschweren. Alle Aufregung mit festem Willen niederzwingen. Das alles wirst du tun. Ich muß mich unbedingt auf dich verlassen können, wenn ich sie zu dir hereinführen soll. – Kann ich es?«

»Ja!« stieß Jonas hervor, während ihm die Lippen noch zitterten. Er konnte nicht an gegen diesen Willen, der den seinen in Bann hielt.

»Gut. Und nun will ich dir einen helfenden Trost geben für deinen ersten großen Schmerz,« sagte Erik mit so weicher Stimme, daß es Jonas war, als spräche er mit den Lauten der Mutter zu ihm. »Wenn Ruth von dir gegangen ist, blicke nicht zurück auf sie, sondern vorwärts in dein Leben; sorge dafür, daß du dich tüchtig entwickelst, arbeite daran, daß du bald ein ganzer Mann wirst, – damit du ihr einst ein ganzer Freund sein kannst, wenn sie deiner bedarf. So kommst du in allem, was du tust, zu ihr zurück, – ihr nahe.

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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