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blickten sicher, – fest. Es fiel ihm auf. Sie blickten beinahe kalt.
Er strich ihr das Haar aus dem blassen Gesicht zurück.
»Weißt du auch noch, daß hier dein alter Platz ist? Hier am Stuhl. Wo du zuerst herkamst. Wir haben ihn wohl fast vergessen, draußen im Garten und – bei den andern. Monatelang. Aber der heutige Morgen gehört uns allein. Uns beiden. Und den wolltest du krank zubringen.«
Sie antwortete nicht.
Ganz leise nur beugte sie den Kopf gegen ihn vor, so daß seine Hand durch die Haarwellen hindurchglitt, und schwieg still.
»Du bist ein dummes Kind,« sagte er, »sonst hättest du gewußt: wenn ich etwas von dir verlange, so sollst du es klar und still tun. Niemals in einem Fieberrausch. In keinem Sinn. Ich weiß, es ist tausendmal schwerer. Aber niemals sollst du dir's erleichtern. Durch nichts. Nur war ich selbst dies mal nicht ohne Schuld, Ruth. Ich selbst war wie krank, – nicht wie ich sein sollte.
Siehst du, nun beicht' ich dir's auch. – – – Ist es nun gut?«
Sie blickte ihn unverwandt an. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Eins fehlt noch,« sagte sie.
Ihm kam ein Lächeln.
»Noch etwas? Was denn, mein anspruchsvoller Kindskopf?«
»Darf ich nicht anspruchsvoll sein?«
»Das darfst du. Halt deine Hände offen, Liebling, und laß dich beschenken.«
Da glitt sie am Sessel nieder, auf ihren alten Platz zu seinen Knien, und hob ihr Gesicht auf zu ihm, – Trotz in den Augen.
»Ich meine kein Geschenk. Ein Recht.« Erik stutzte.
Er schaute forschend in ihre Augen mit dem fest auf ihn gerichteten rätselhaften Blick.
»Nimm dir dein Recht, Ruth,« sagte er einfach.
Sie flüsterte kaum hör bar: »Daß ich erfahre, warum. Das plötzliche Fortmüssen, – – – warum?«
Er legte ihr die Hand über die Augen.
Eine lange Pause entstand.
»Du hattest vorhin ganz recht: eins fehlt noch,« antwortete er dann, »zwischen uns fehlt eins. Weißt du, was es ist? Daß zwischen dir und mir ein zu großes Stück Menschenleben liegt, – daß wir im Alter so weit voneinander entfernt sind. Denke nur: du und noch einmal du, das gibt immer noch nicht: ich. Auf eine so große Entfernung hin ist es bisweilen schwer, manches miteinander zu teilen, – mitzuteilen. Aber nun sieh das Wunder: dieser Mangel, diese Lücke und Leere zwischen dir und mir, – sie eint uns grade. Nur sie macht, daß ich dich leiten und dir befehlen kann. Sie macht, daß du da so vertrauensvoll knien kannst, wie eben jetzt, und mit deinen trotzigen Augen zu mir aufschauen. Sie macht, daß ich den Weg besser kenne als du. Denn ich habe den halben Weg schon zurückgelegt. – Oder könntest du das missen? möchtest du lieber, ich stünde neben dir, von gleichem Wuchs wie du? noch suchend, irrend, eines Wegweisers bedürftig, wie du?«
»Nein!« sagte sie lebhaft, »das wäre wie zwei Kinder im Walde.«
»Dann nimm es hin, daß ich dir nicht antworte.«
Sie erwiderte nichts, aber er fühlte, daß ihr Herz wild zu schlagen begann. Sie gab nicht passiv nach, wie bis gestern noch. – Sie war gestern irre geworden. –
Mit letzter Kraft mochte sie sich gegen ihn zusammengerafft, – sich eingeredet haben, ihm gegenüber noch Kraft zu besitzen: Selbständigkeit. Im arglosen Schlummer erschüttert, mochten ihre Gefühle in Gärung gekommen sein, – mochte eine Welt von unverstandenen Empfindungen in ihr ringen.
Die feine, ruhige, grade Linie, in der sie sich vor Eriks Augen so kindlich weiter entwickelt hatte, wurde ihm undeutlich, wurde unruhig, – sie schien sich zu biegen, – eine Wendung zu machen: eine Wendung zu ihm hin – oder von ihm fort.
Über Erik kam eine Spannung, die alle seine seelischen Fähigkeiten aufs äußerste schärfte, sein ganzes Wesen erwartungsvoll spannte und jede sinnliche Erregung vollkommen niederhielt.
Er legte seinen Arm um Ruth und bog mit der Hand ihren Kopf zurück. Ihre Lippen zitterten.
»Sieh mir in die Augen, du Trotzkopf!« sagte er, »was hat sich da in dir geregt? Brich den letzten Trotz, – denn es war einer. Laß mich ihn brechen. Es schadet nichts, wenn es einen Augenblick schmerzt. Gib nach, laß es geschehen. Wirf dein Recht von dir, mache dich recht los. Um Kinderrecht zu haben: um folgen zu dürfen, ohne zu fragen. Um zu gehn, ohne ein Warum.«
»Wann – gehn?« fragte sie undeutlich.
Er drückte ihren Kopf an sich.
»Heute,« sagte er mit bedeckter Stimme, »jetzt. Jetzt gleich. Nein, nicht zusammenschrecken. Sei mein mutiges Kind. Wir haben nur noch diese Stunde, Ruth. Dann bring' ich dich in die Stadt. Zum Zuge, der ins Ausland fährt. Frau Römer wartet auf uns.«
Sie hatte sich in seine Arme geworfen. Sie umfaßte ihn so fest, als solle nichts sie von da wegreißen. Doch wußte er: sie widerstrebte nicht länger. Sie gab nach, willenlos.
Aber es war vielleicht nur die Angst des Abschiedes. Der Schreck davor, der sie überfiel. Gestern war sie doch an ihm irre geworden, – und morgen? – – da besaß er keine Macht mehr über sie. Wußte nicht mehr, was in ihr vorging.
Er sagte sehr sanft: »Du gehst nicht fort, weil ich dir weh tun will, sondern weil ich dich lieb habe. So lieb, daß ich dir weh tun kann. Gib dir dieser Liebe, Ruth, – ohne Rückhalt, ohne Zweifel, – gib dich ihr ganz. Danke täglich, daß ich zu dir sage – des Morgens mit deinem Erwachen, des Abends mit deinem Ein schlummern: ›Ich hab' dich lieb.‹«
Sie sah auf, ohne von ihm zu lassen, – mit grenzenlosem Dank in den Augen sah sie auf. Ein kaum merkliches Lächeln spielte ihr um den Mund, – ein wenig zaghaft noch.
»Da geh' ich ja nicht fort, – da nehm' ich Sie ja mit,« sagte sie, fast schelmisch.
Das Glück brach aus ihren Augen, – ja, der Schalk.
Es berauschte ihn. Aber anders als gestern. Wohl hielt er sie im Arm, wohl kniete sie an seiner Brust, aber nicht seine Sinne wurden berauscht. Etwas unendlich viel Feineres, eine Wollust so fein, wie sie sich durch keine Sinne vermittelt, erfüllte ihn mit kraftvollem Genügen. Er konnte Ruth nicht unbedingter zu eigen nehmen, sich nicht stärker aneignen, als in diesem Augenblick, wo er sie von sich löste, wo sie auf sein Geheiß von ihm ging, weil sie ihm lieb war.
Einigung