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sagte er reuig vor sich hin, während er ihr langsam folgte. Allein gelassen hatte er sie, allein stehen lassen in dem Augenblick, wo sie seine ganze Kraft und Liebe erwartete und ihrer bedurfte. Weil er sich selbst nicht traute, nicht vertraute – aus Furcht vor seinen Sinnen – und vor diesem unwissenden Kindersinn, der ihm mit einem Lächeln entgegenkam.
Das war feige gewesen. Nicht durfte er aus solchen feigen Gründen in letzter Stunde seine Hand zurückziehen, nach der sie sehnsüchtig und gläubig griff, als nach der Hand des einzigen Menschen, den für sie die Erde trug. Nicht überlegen, nicht geizen, nicht einschränken das, was er ihr gab, und wonach es sie mit einer Inbrunst verlangte, – mit einer Zärtlichkeit, wie sie auf der ganzen Welt nur das einsame, das nie geliebkoste Kind kennt.
Aus einer unendlichen Fülle her aus sollte noch ein mal seine Liebe sie umhüllen, sie umgeben, weich und schützend wie Mutter liebe, – aus einer so reichen, so kraftsichern Fülle heraus, daß er sich aller Bedenken entschlagen konnte, – daß er sein Liebstes nur noch wie auf starken Armen hob und trug, – es einem schlummern den Kinde gleich in einem letzten Traum hinüber trug in die fremde, die kältere Welt. –
Der Hausflur war schwach erhellt durch das Licht, das an der offnen Tür zu Eriks Zimmer stand. Ruth hängte seine Joppe über den Türgriff, und ohne sich nach Erik umzusehen, stieg sie hinauf.
Er löschte das im Luftzuge flackernde, tropfende Licht und warf sich ausgestreckt auf den Lederdiwan in seinem Arbeitszimmer, froh des Dunkels und der Einsamkeit.
Seit der Stunde seiner Rückkehr gestern verlangte ihn unbewußt nach dieser Stille und Einsamkeit.
In dem Augenblick, wo er gestern aus dem Flur zu seiner Frau hineintrat, in dem Augenblick, wo Ruth an seiner Brust lag und ihn Bels Stimme rief, war etwas Sonderbares in ihm vorgegangen. Sie rief: »Erik, bist du wie der da?« – Aber ihn durchgellte es wie: »Erik, gehst du fort von mir?« Und als er sie wieder sah, sie daliegen sah in dem Zimmer, das er so gut kannte, genau so wie zwei Tage vorher, da kam es ihm vor, als läge eine lange, lange – jahrelange Reise dazwischen, während der er seine Frau nicht gesehen, nicht mit sich genommen, – ja vergessen hatte. Es war fast wie ein Moment der Geistesstörung gewesen.
Und die Erregung, in der alle seine Nerven noch zitterten, ließ keine Selbstbesinnung zu.
Aber jetzt – jetzt stellte er sich wieder dahin, auf die selbe Stelle, Bel gegenüber und ihrer fragenden Stimme, und jetzt antwortete er ihr: »Es ist eine lange, lange Reise gewesen. Ich habe dich nicht wiedergesehen all diese Zeit hin durch, – dahin nicht mehr gesehen, wo du bist: dich vergessen.
Nicht zufällig, nicht unabsichtlich, nicht im Rausch des Augenblicks. Nein, bewußt und gewollt. Mit allen Sinnen und Gedanken wollt ich nur einen Punkt vor Augen haben, ihn durchschauen, durchdringen, – in eine verhüllte Zukunft schauen und dringen. Unbeirrt von allem, was hindert und bindet. Frei, wie einer, der alles hinter sich geworfen hat und dasteht wie ein Bettler oder ein König, wollt ich meine Hände aufheben zu meinem Glück.
Dann – einst – ist es an der Zeit, zurückzukehren zu den Fragen und Forderungen, den Pflichten und Fesseln des täglichen Lebens, aber nur um sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Zu dir zurückzukehren, aber nur zum Kampf. Zum Kampf um mein Glück.«
Erik hatte die letzten Worte fast laut gemurmelt: »Kampf – – – Glück.«
Er öffnete, wie erwachend, die Augen.
Es war hell um ihn. Die Nacht vor bei. Glutrot stand der Himmel, wie in Flammen.
Hinter dem Gehölz ging die Sonne auf. Purpurn, strahlenlos wie ein ungeheurer Mond leuchtete sie durch den Morgennebel. Und purpurner Glanz auf den Fenstern, auf dem Fußboden.
Noch war im Hause niemand zu hören. Nur die Schwarzdrosseln schwatzten vor dem nahegelegenen Küchenfenster und unterhielten sich darüber, ob ihnen Gonne wohl bald, beim Zubereiten des ersten Frühstücks, ein paar Krumen zuwerfen werde?
Erik stand auf, stand still angesichts der Morgenherrlichkeit.
Er hatte Bel geliebt, – so sehr, wie, nach seiner Meinung bisher, der Mann überhaupt das Weib lieben konnte: nicht nur mit der Habgier der Sinne, nicht nur zu einem flüchtigen Liebesbündnis, das zufällig »Ehe« hieß, sondern zu einem wirklichen Lebensbündnis, das kein Staat, kein Priester, das nur der eigne, bewußte Wille besiegelt. Es war so gewesen, wie er damals, in dem scherzenden Gespräch über die Ehe, zu Warwara gesagt hatte: kein Pflichtbewußtsein nur, sondern das dauernde Glücksbewußtsein, seinem Weibe, auch nach dem Schwinden der Sinnenliebe, alles in allem zu sein. Daran hatten weder Krankenlager noch Altern, weder Lebensenttäuschungen noch Liebesversuchungen jemals das Geringste zu ändern vermocht.
Wenn er ihr je untreu gewesen war in einer heißen Aufwallung des begehrlichen Blutes – oder auch in einem bittern Rückblick auf die zerstörten, für sie hingegebenen Hoffnungen seiner Jugend, dann lehnte er sich mit Kraft und Härte gegen sich selbst auf. Niemals hätt' er es zugegeben, daß irgend eine Gewalt stärker über ihn wer den könne als sein Wille, seine Bürgschaft.
Und nun, wenn er alles sammelte was er an Scham und Selbstvertrauen, an Stolz und Herzensgüte besaß, – wenn er das alles sammelte und zusammenraffte, war es nicht genug, um Bel, die Wehrlose, gegen einen Kampf mit ihm zu schützen? Oder wenn es denn in der Zukunft zu einem solchen Kampfe kam, gab es in seinem vergangenen Leben nichts, was stark genug, heilig genug, barmherzig genug war, um für Bel einzutreten und gegen ihn selbst zu siegen?
Erik schaute gradeaus, hinein in das rote Flammenmeer am Himmel. Er wollte, – er mußte ehrlich sein.
Und er sagte sich: »Nein.«
*
Auf der Terrasse wurde der Morgentisch gedeckt. Eriks Platz am Tisch blieb aber heute leer. Ganz früh hatte er sich Tee auf sein Zimmer bestellt, dann war er zu Jonas hineingegangen, um nach ihm zu sehen.
Gleich nach dem Frühstück ließ er Ruth zu sich bitten.
Als sie kam, streckte er die Hand nach ihr aus. »Du schlechtes Mädel. Bist du gesund geblieben? Laß mich sehen.«
Sie nickte und trat zu ihm an den alten Ledersessel am Fenster.
Aufmerksam betrachtete er sie. Ihre Augen waren dunkel umschattet. Aber sie