Ruth - Page 46

Bild von Lou Andreas-Salomé
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Auflösung begriffen.

Jonas erfuhr nichts von der bevorstehenden Trennung. Niemand teilte es ihm mit. Er hörte nur, daß Ruth wieder gesund sei, aber das glaubte er nicht. Wie konnte sie gesund sein, wenn sie doch so ganz verwandelt war seit gestern. Und nicht nur Ruth, alles schien ihm wie verwandelt.

Gern hätt' er sie gebeten, ihm zu sagen, was gestern geschehen sei, aber sie ging den ganzen Tag mit so in sich gekehrtem fremdem Blick an ihm vorbei, daß er es nicht herausbrachte. So begnügte er sich damit, so oft er nur konnte, neben ihr zu sitzen, den Arm um ihre Stuhllehne gelegt, und dann von Zeit zu Zeit behutsam und zärtlich ihre Hand zu streicheln. Manchmal bückte er sich auch und küßte ihre Hand, ohne daß es Ruth beachtete.

Daß Erik nicht zu Hause war, verstärkte in Jonas noch die Empfindung, daß er über Ruth zu wachen habe, wie ein getreuer Wächter. Am liebsten hätt' er sie mit Leib und Leben verteidigt und aus Todesgefahr errettet, – wenn er nur gewußt hätte, wovor und vor wem.

Spät am Abend, als sie längst in ihre kleine Stube hinaufgestiegen war, patrouillierte Jonas noch unermüdlich im Garten vor ihrem Fenster auf und ab, und es tat ihm leid, daß so absolut nichts passieren wollte. Endlich verfügte er sich mit einem krampfhaften Gähnen in sein Bett, aber er schlief unruhig und erwachte bald wieder.

Da sah er deutlich im Garten vor der Terrasse Ruths Fensterkreuz auf einem hellen Lichtfleck abgezeichnet: bei ihr mußte jetzt, gegen Morgengrauen, noch Licht brennen.

War sie krank? unglücklich?

Er hielt es im Bett nicht aus. Im Nu war er in seinen Kleidern und stieg geräuschlos aus dem Fenster. Vor der Terrasse stand die alte Ulme; sie bildete einen bequemen Sattel, dort, wo sie sich in zwei mächtige Äste gabelte. Wie eine Katze kletterte Jonas an dem bemoosten, von dem starken Niederschlag während der Nacht schlüpfrig gewordenen Stamm hinauf.

Verlangend blickte er in den gelblichen Kerzenschein, der aus der Giebelstube fiel.

Ruth saß auf dem Bett. Vollständig angekleidet, so wie sie hinaufgegangen war, saß sie noch da; die Arme vor sich hingestreckt, die Hände auf den Knieen gefaltet, kehrte sie Jonas fast voll ihr Gesicht zu. Den Kopf ein wenig erhoben, schaute sie weit hinweg über die dunkeln Wipfel des Gartens.

Sie blickte so geheimnisvoll, wie in eine unendliche, verklärte Ferne. Und um die festgeschloßnen Lippen lag ein stiller Ausdruck, – lag Ergebung.

Jonas starrte mit weitgeöffneten Augen auf sie hin. Er war so im Bann des einen Bildes, daß er gar nicht mit Bewußtsein wahrnahm, was das flackernde Licht auf dem Tisch sonst noch beleuchtete. Er sah nicht, daß der Tisch selbst abgeräumt war, die Stühle zusammengeschoben, – nicht, daß auf ihnen ein offner, halb gefüllter Koffer stand und daß die Wände ohne den Schmuck seiner Bleistiftskizzen kahl und leer auf Ruth niederblickten.

Er sah sie nur, seine lustige Ruth, wie in dem Bilde einer betenden Heiligen, und alles, was in dem Erlebnis des vorigen Tages seine schwerfällige Knabenphantasie in mächtige Schwingungen versetzt hatte, gewann erneute Gewalt über ihn. Ruth selbst wurde etwas Geheimnisvollem und Leidendem für ihn, aus der fröhlichen Spielgefährtin zu einem Wesen, das seine Schwärmerei wachrief.

In Gedanken hörte er wieder den leisen Klagelaut vom Tage vorher, er sah sie auf dem Bett daliegen, den Vater über sie gebeugt, – und sein Herz schlug beklommen.

Er vermochte nicht die Augen vom Fenster abzuwenden.

Die Nacht war kalt, vom Rasen unter ihm stieg der Nebel auf. Schmal und blaß hing die kleine Mondsichel am östlichen Himmel, und aus dem Gehölz klang ein verschlafenes Rabenkrächzen.

Jonas fror, er schob die Hände unter seine dünne Sommerjacke und drückte sich dichter gegen die breiten Äste, deren Feuchtigkeit ihn allmählich durchdrang. Dabei fiel ihm der eine seiner roten Pantoffel klatschend auf die Terrasse nieder.

Er zog den nackten Fuß unter sich und überlegte ärgerlich, ob er hinuntersteigen solle, den verlorenen Schuh zu holen. Da bewegte sich Ruth. Das Geräusch draußen hatte sie aus ihrer Traumversunkenheit geweckt.

Sie stand langsam auf und löste ihre Bluse von den Schultern.

Ein Arm hob sich heraus und, unter dem von keinem Schnürleib bedeckten Hemde, die zarte Wölbung der Brust.

Einen Augenblick stand sie mit gesenktem Kopfe still. Dann hob sie die entblößten Arme hoch über sich, stürzte vor ihrem Bett auf die Knie und warf sich mit ausgebreiteten Armen darüber hin, den Oberkörper langgestreckt, in den Kissen vergraben. So blieb sie regungslos liegen.

Jonas verharrte unbeweglich und hielt den Atem an. Er hatte den Schuh, er hatte die Kälte vergessen.

Vor seinen Augen flimmerte es.

Weit vorgebeugt, die Finger hineingekrallt in die belaubten Zweige, um nicht zu fallen, starrte er mit klopfenden Schläfen nach dem Bett.

Über ihm glomm langsam der Morgen herauf.

*

Als Gonne am frühen Morgen beim Fegen der Terrasse den Pantoffel auflas, war Jonas längst frostbebend in sein Bett gehinkt, halb bewußtlos vor Kälte und Erregung. Er gab sich den nächsten Tag große Mühe, ein starkes Unwohlsein zu verbergen, konnte aber vor Heiserkeit kaum sprechen, und seine Augen glänzten im Fieber. Auf Klare-Bel besorgtes Drängen und Fragen bekannte er, die Nacht im Garten gesessen zu haben.

Nach dem Essen warf er sich angekleidet auf sein Bett.

Um diese Zeit kehrte Erik nach Hause zurück. Klare-Bel erwartete ihn erst mit Einbruch der Nacht. Aber er hatte auch von Moskau den Nachtzug benutzt.

Ruth stand in seinem Arbeitszimmer, bemüht, ihre Papiere und Hefte unter den seinen herauszusuchen, um sie einzupacken. Was war nun seines, – was ihres? Der ganze Inhalt ihrer Studien in Niederschriften von seiner Hand, – der ganze Inhalt seiner Pläne und Arbeiten für den Winter, seiner Gedanken und Vorträge wiedergegeben, niedergeschrieben von ihrer Hand.

Da vernahm sie im Flur unerwartet einen raschen, festen Schritt.

Die Tür von Eriks Zimmer in den Flur flog auf, und Ruth an seine Brust.

Sie hatte über Zweck und Dauer seiner Reise nicht nachgedacht. Von der einen Gewißheit hypnotisiert, daß sie fort mußte, nahm sie alles passiv hin.

Um so mächtiger wirkte jedoch jetzt der plötzliche Anblick Eriks auf sie. In diesem einen Augenblick vergaß sie alles, – in diesem einen Augenblick siegte die Gewalt der Gegenwart über jeden Kummer, der bevorstand, – leugnete ihn, vernichtete ihn,

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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