Ruth - Page 42

Bild von Lou Andreas-Salomé
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wär es besser, tot zu sein.«

»Ruth!« rief er erschüttert.

Sie suchte sich zu fassen. Ihre Hände sanken von seinen Armen und schlangen sich ineinander. Dann hob sie den Kopf.

»Ich will alles tun, – alles! Recht oder Unrecht, Gutes und Böses, – alles! Ich will gehorsam sein bis in den Tod. Stellen Sie mich auf die Probe. Aber gehorchen muß ich Ihnen dürfen, – Ihr Kind sein dürfen, – zu Ihnen sagen dürfen: ich will tun, was Sie wollen. Immer! Immer! Das muß ich – muß ich dürfen. – – Darf ich?«

Unwillkürlich hob sie ein wenig die gefalteten Hände. Eine Gebärde unsäglicher Demut. Aber ihr Gesicht sah dabei fast finster aus, und ihre Stimme klang wie Metall. Und nur zuletzt ein ganz weicher, kindlicher Ton: »– Darf ich?«

Erik wurde zumute, als schaue er plötzlich, erst in diesen vorüberblitzenden Sekunden, mit weitem Blick hinein in die verhüllte Tiefe, aus der allein Ruths Liebe geboren werden konnte. Zum ersten Male hinein in das Geheimnis ihres Wesens, – hinein in die stumme Einsamkeit und Sehnsucht vieler, vieler Jahre, aus der mit rückhaltloser Gewalt die lang' gehemmte, lang auf gestaute Inbrunst hervorgebrochen war, als er in ihr Leben trat. Ihn lieben dürfen, das hieß: endlich – endlich Kind sein dürfen, gehorchen, sich hingeben, sich weggeben, – auf den Knien noch. Es hieß sammeln und ausstürzen dürfen die ganze leidenschaftliche Zärtlichkeit des Kindes, das noch keine Kindheit gehabt hat. Und das doch grade dessen – nur dessen bedurfte.

Ruths Augen blitzten ihn durch die Dämmerung an.

»Bin ich noch immer arm, – ein armes Kind?« schienen sie ihn unverwandt zu fragen.

»Du bist nicht arm, – mein Kind bist du, – und darfst gehorchen, – mir folgen, – du sollst es immer dürfen,« sagte er heiser.

Und er öffnete die Tür nach der Treppe, über der das Lampenlicht hell aus dem Flurraum heraufschien.

*

An jenem Abend zog sich Erik schon gleich nach dem Tee in sein Arbeitszimmer zurück. Klare-Bel merkte recht wohl, daß er wieder die halbe Nacht aufblieb. Obgleich doch am andern Tag der Unterricht ausfiel.

Den nächsten Morgen fragte Erik am Frühstückstisch, ob Briefe in die Stadt mitzunehmen seien.

»Willst du zur Stadt fahren? grade heute? am Sonntag?« fragte seine Frau unruhig.

»Ja, ich muß selbst zwei Briefe, die dringend sind, besorgen und einen notwendigen Besuch machen,« versetzte er.

Die beiden Briefe sah Klare-Bel auf dem Nebentisch liegen. Der eine an Römer nach Heidelberg, der andre an dessen Frau nach Moskau. Beide doppelt frankiert.

Sie wagte nicht, ihn zu fragen, was er denn an Frau Römer so viel zu schreiben habe? Er machte ein so ablehnendes, verschloßnes Gesicht. Aber als er fortgegangen war, sann Klare-Bel den ganzen Vormittag traurig und besorgt diesem Gesicht nach.

Dies Wortkarge, Verschloßne kannte sie als ein schlimmes Zeichen. Erik war offen und mitteilsam, wenn er froh war; wenn er schwieg, so litt er. Und grade dann hätte Klare-Bel am liebsten alles mit ihm geteilt. Dem Glücklichen, Frohen gegenüber fühlte sie sich leicht ein wenig gedrückt, ein wenig überflüssig. Dagegen erschienen ihr immer Leiden und Kummer als die geeignetsten Zugänge zu Eriks Innerm, die wohl auch sie hätte finden müssen, – um ihm nahe zu kommen, um ihm notwendig zu werden. Aber grade, wenn er litt, wurde er am unzugänglichsten, – wurde er stets abweisend bis zur Schroffheit. Nur in seinen frohen Stunden erschloß er sich ihr.

So war es also wohl nichts für sie: weder mit der Freude, die sie ihm so gern bringen wollte, – noch auch mit dem Kummer, den sie mit ihm getragen hätte.

Inzwischen befand sich Erik in der Stadt bei Ruths Verwandten. Ganz gegen seine Vermutung fand er auch die Tante vor, die soeben von Wiesbaden zurückgekehrt war, um nach kurzem Aufenthalt zu den Ihrigen nach Livland zu reisen, wohin sie ihr Mann begleiten sollte.

»Vor Anbruch des Winters kommen wir von dort nicht mehr heim,« sagte der Onkel zu Erik, den er auf das herzlichste wieder begrüßt und erst nach längerm zwanglosem Gespräch zu zweien in das Empfangszimmer zu seiner Frau geführt hatte. »Aber alles, was Sie mir da erzählt haben, eilt ja auch nicht von heute auf morgen, denk' ich mir. Wenn Sie Ihre Absicht ausführen, Ruth ins Ausland zu senden, so ließe sich dabei der Zeitpunkt unsrer Rückkehr ein wenig mit berücksichtigen, nicht wahr?«

»Nein!« entgegnete Erik, »das, was ich von Ihnen erbitten wollte, war eben dies: mir auch hierin vollständig freie Hand zu lassen. Und für Ruth an dem Reiseanschluß festzuhalten, den ich im Auge habe. Auch wenn das ihre Abreise unberechenbar beschleunigen sollte. Ich weiß, daß ich Ihnen damit viel zumute. Aber wenn Sie Vertrauen zu mir haben, dann lassen Sie mich noch einmal über Ruth entscheiden, so unbedingt wie damals, als ich sie Ihnen fortnahm.«

»Ich weiß keinen Menschen auf der weiten Welt, zu dem ich mehr Vertrauen fassen könnte als zu Ihnen,« versetzte Ruths Onkel, dem bei Eriks sonderbar bestimmtem Ton die Gemütlichkeit schwand, »und was Ruth anbetrifft, so hab' ich von allem Anfang an das Gefühl gehabt, als ob selbst so nahe Verwandte wie wir Ihnen ein Recht auf die Kleine abtreten müßten. Wenn Sie also so fest glauben, daß es gut an ihr gehandelt ist, dann handeln Sie so! Ich meinerseits will, – wenn ich sie nicht wiedersehe, – ich will Weihnachten einen kurzen Urlaub nehmen und unsre kleine Studentin in Heidelberg besuchen.«

»Aber ich bitte dich! nenn' es doch wenigstens nicht gleich beim ärgsten Namen!« fiel die Tante ein, der die Nachgiebigkeit ihres Mannes unverantwortlich vorkam. »Ruth soll doch nicht wirklich studieren? Ich meine mit einem Studentenplaid und kurzen Haaren, wie es hier geschieht? Bei uns in den Ostseeprovinzen wäre so etwas rein undenkbar.«

»Einstweilen soll sie lernen,« antwortete Erik etwas ablehnend, »das weitere wollen wir ruhig ihr selbst und der Zeit überlassen.«

Sie sah ihn prüfend und mißbilligend an. Wie konnte man so etwas der »Zeit« überlassen. Hätte er noch gesagt »der Vorsehung«. Wenn er für das Frauenstudium eintrat, dann war er auch ganz gewiß ein Atheist. Und solchen Leuten war doch wohl alles zuzutrauen.

»Ich sehe mit Verwunderung, daß mein Mann sehr sorglos darüber denkt,« bemerkte sie, als Erik schon aufstand, um sich

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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