Ruth - Page 38

Bild von Lou Andreas-Salomé
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Heiliger war Erik wohl sicher nicht. Aber selbst da hatte sie mit Schrecken empfunden, wie suchend und sehnend und ungeduldig er auf das Innerste ging. Auf das, worin sie ihn enttäuscht hätte. Und das ließ ihre Eitelkeit nicht zu.

Als sie damals von seiner Stadtwohnung nach Hause fuhr, hatte sich ihr fortwährend ein ganz abscheuliches Bild aufgedrängt. Sie konnte es nicht loswerden. Immer sah sie ein Weib vor sich, das falsche Brüste angelegt hat und sich deshalb vor der Berührung des Mannes, den ihre Gestalt fesselt, hüten muß. Hatte nicht ihre Koketterie ganz ähnliche Gründe? Sie fürchtete die geistige und seelische Entblößung Und die Arbeit an sich selbst.

Es war wirklich ein ganz abscheuliches Bild. Und zur größten Neugier ihrer Nachbarin errötete Warwara mitten im Vortrag.

Nach seinem Schluß trat Warwara im Treppenhause beiseite, um nicht in die hinausdrängende Menge zu geraten, dort bemerkte Erik sie und kam auf sie zu. Seine Augen leuchteten. Warwara war blaß.

»Nun?« fragte er lächelnd und ganz in seinem alten, leichten Ton ihr gegenüber, »fand der ›Toast‹ Gnade vor Ihren Augen? Vielleicht war es wirklich einer.«

»Wenn's einer war, so könnt' ich wohl auf die eifersüchtig – nein, aber neidisch sein, deren Wohl Sie da ausgebracht haben,« versetzte sie, ebenfalls in ihrem gewöhnlichen Scherzton, aber ihr Gesicht blieb ernst; »unser Wohl ist's nicht. Ich begreife jetzt, daß Sie anderswo hingehören wollen, als zu uns Gesellschaftsgelichter.«

»Aber Warwara Michailowna!« sagte er von ihrem Ausdruck frappiert, »warum nehmen Sie sich nicht aus?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Aus Selbsterkenntnis. Ich habe Sie heute verloren,« entgegnete sie und gab ihm die Hand, »also adieu, – nicht nur für heute. Ich verzichte auf Sie. Ich entlasse Sie. – Aber nun hören Sie: es ist doch der Schulrock, und nicht der Gesellschaftsrock, der Ihnen am besten steht.«

Erik sah ihr nach, wie sie langsam die breite Treppe hinunterstieg. Aber als sie seinen Augen entschwunden war, vergaß er auch schon wieder, was ihm durch den Scherz hindurch heute an ihrem Wesen so aufgefallen war.

Und sein Blick glitt von ihr fort über die andern hin, die ihr folgten, über jung und alt, und vertiefte sich in die Mienen der einzelnen mit dem Interesse, das der wechselnde Ausdruck in den verschiedenen Menschengesichtern stets in ihm hervorrief.

Ja, nun begannen die Ferien und die langen nicht enden wollenden Sonnentage. Da würden seine Gedanken erst recht hierher wandern in die Schule. Einen andern Wirkungskreis gab es wohl nie mehr für ihn – einen breitern. Er wollte auch keinen in diesem Augenblick. Sein Ehrgeiz schwieg still. Zu Kindern reden lernen wollte er, und die Großen zu Kindern machen, bis auch sie empfänglich würden, gleich denen, die da noch wachsen.

Mit diesen Gedanken verließ Erik das Schulgebäude.

Er war ungeduldig, heimzukommen: er sah eine Bank im Garten, hinten am kleinen Gehölz, unter den überhängenden Birkenzweigen, und Ruth saß darauf und lauschte, während er ihr von allem erzählte, was »er sich ausgedacht«. Zusammen wollten sie sich's ja ausdenken, hatte er ihr versprochen.

Daheim sein bedeutete jetzt nicht mehr bloß die Stille und das Behagen, aus denen seine unbefriedigte Tatkraft ruhelos und vergeblich in die Weite gestrebt hatte. Daheim umfing ihn grade seine liebste Arbeit und Aufgabe, – daheim fiel jetzt Innen und Außen, Ruhen und Wirken, Träumen und Schaffen in eins zusammen. In Ruth war etwas, das machte sein ganzes Wesen produktiv, erregte und vertiefte alle seine Kräfte, so daß leise von ihnen abglitt, was dem äußern Ehrgeiz angehörte.

Als Erik die Gartenpforte öffnete, sah er auf dem Rasen, zwischen den Bäumen, ums Gehölz herum eine wilde Jagd. Er sah Ruth, Jonas – und noch einen. Einen mittelgroßen, etwas untersetzten Mann mit kurzem dunkelm Vollbart und mit Brille. Der jagte sich mit Ruth und haschte vergeblich nach ihr. Seine Stimme klang scherzend und lachend herüber.

Er war Bernhard Römer.

Nun wurde er Eriks ansichtig und kam heran.

»Auf einen Tag und eine Nacht, wenn's recht ist!« rief er, ein wenig außer Atem, und fuhr sich mit dem Taschentuch über das kurzgeschorne dichte braune Haar; »– und die Ruth nehm ich gleich mit fort, – das heißt, wenn ich sie hasche. Dann soll ich sie kriegen, haben wir ausgemacht,« fügte er hinzu, während sie sich die Hände schüttelten, »das ist ja ein reizendes Ding. Sieht aber noch aus wie ein Kind. Vierzehnjährig.«

»Sie ist zart,« sagte Erik und stieg mit ihm die Terrasse hinauf.

»Zart? Muskulatur wie eine stählerne Feder. – Es ist ungerecht, daß du sie hast. Wir brauchen ein Hauskind. Ihr habt ja den Jungen.«

»Bist du schon so schnell zurückgereist? Und deine Frau? fragte Erik, ihn unter brechend, und bot ihm einen Stuhl neben Klare-Bel, die auf der Terrasse lag und lächelnd dem lustigen Treiben zugesehen hatte.

»Ich mußte zurück. Und meine Frau? Ja, die wollte noch nicht zurück. Die Frauen sind heutzutage entsetzlich selbständig. Sei froh, daß dir Bel nicht fortlaufen kann. – Meine Frau, die reist also herum und besichtigt Suppenanstalten.«

»Suppenanstalten?«

»Ja, ja. Und besucht auch noch den verrückten Grafen in Jasnaja Poljana. Für so etwas interessiert sie sich nun einmal. Von Rechts wegen sollte ich meine hochwohllöbliche Professur aufgeben und ein russischer Bauer werden, der das Feld pflügt. Aber ein so edler Mann und Ehemann bin ich nun doch nicht.«

»Ich finde: sehr,« bemerkte Klare-Bel, »da Sie Ihrer Frau alles das erlauben.«

»Erlauben?« Bernhard Römer lachte herzlich und setzte sich zu ihr. »Meine liebe gnädige Frau, ich will's Ihnen nur gestehn: ich habe gar nichts zu erlauben. Wissen Sie warum? Ich bewundre nämlich ein wenig meine unartige Frau. Bei uns zu Hause hat sie auch so etwas wie Suppenanstalten eingerichtet. Natürlich nur sehr im kleinen, – sagen wir lieber: im winzigen. – Aber nun will ich dir was sagen, mein lieber Erik: wir haben einst so im größten, im allergrößten, herrliche Pläne gemacht zur Vervollkommnung des Lebens und der Menschen, – aber meine Frau, die führt sie im winzig kleinen aus. Nur sie. Das ist die Art, wie sie sich meine Pläne zu Herzen genommen hat, nachdem ich wohlbestallter und – wohlbeengter Professor geworden bin. Daß sie nur so wenig kann, hält sie von nichts zurück. Das eben ist Frauenhand und Frauenarbeit – mutig. Wir sind Stümper

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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