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ihm ganz unerwünscht.
»Aber Ruth!« sagte er, »hat dich denn deine Phantasie mit Haut und Haaren aufgefressen? Eine solche Kleinkinderangst legt man am sichersten in allmählicher Gewöhnung ab. Mir ist es lieber, wenn es allmählich geschieht. Überleg es dir! Denn wenn du darauf bestehst, gibt es kein Zurückweichen mehr! Dann kein Spielen und Versuchen! Das würd' ich nicht dulden. Deiner selbst mußt du sicher sein.«
»Ja!« behauptete Ruth, und die Stirn wurde ihr feucht.
»Willst du es trotzdem? Gut. Dann komm her.«
Erik beobachtete sie mit gespannter Aufmerksamkeit und trat zugleich von hinten an sie heran, damit sie sich mit dem Rücken gegen ihn lehnen mußte, wenn sie etwa »umfiel«.
Sie stand mit herabhängenden Armen da und machte ein entschlossnes, beinahe finsteres Gesicht. Als er aber nach dem Eimer langte, und sie, dicht vor sich, die Schlange sich in seiner Hand winden sah, über fiel sie ein Schwindel.
Unwillkürlich schlossen und ballten sich krampfhaft ihre Hände, denen sie befahl, sich nach dem glatten Wurm auszustrecken; sie machte zuckend die Augen zu, und es fing an, ihr vor den Ohren zu sausen.
Da hörte sie Eriks ruhige Stimme: »Fürchtest du dich sehr?«
Sie nickte fast unmerklich.
»Dann wollen wir's lassen, mein Kind.«
Ruth öffnete erwartungsvoll und groß die Augen.
»Für immer?« fragte sie schnell.
Er mußte lächeln.
»Nein. Nicht für immer,« sagte er ruhig und freundlich, »aber es eilt nicht.«
Sie nahm sich zusammen.
»Dann jetzt gleich!« murmelte sie.
Und sie streckte den Arm aus und nahm ihm die Schlange aus der Hand. Bei der ersten Berührung erschütterte es ihren ganzen Körper wie ein elektrischer Schlag, sie warf den Kopf zurück und drängte sich hilfesuchend enger an Erik. Aber ihre Finger hielten dabei den langen glatten Schlangenleib fest umspannt, und ohne einen Laut über die erblaßten Lippen zu bringen, sah sie mit weitgeöffneten Augen zu, wie sich die Ringelnatter an ihrem Arm hochstreckte, sich um ihn herumschob und den Kopf mit der feinen gespaltenen Zunge wiegend zur Seite niederhängen ließ.
Der Arm blieb ausgestreckt, als wär' er erstarrt. Und Ruth machte ein Gesicht dazu, als ob sie hingerichtet würde.
»Bravo!« sagte Erik, der seine Hände schützend und ermutigend um sie gelegt hatte, »auch das hast du gut gemacht, Mädel.«
Als er sie aber losließ und mit raschem Griff die Schlange wieder in den Eimer schüttelte, da taumelte Ruth.
»Nein, nein!« rief er heiter, »du mußt nicht denken, daß du jetzt noch ›umfallen‹ darfst. Damit ist es nun nichts mehr.« Und er schob ihr einen Stuhl hin.
Aber Ruth beachtete den Stuhl nicht, sondern ging, ohne aufzusehn, mit unsichern Schritten an Erik vorbei und quer über die Terrasse in den Flur hinein. Dort, so weit von ihm entfernt wie möglich, setzte sie sich in eine Ecke, hinter den Mantelständer, versteckte ihr Gesicht in den Mänteln, die dort hingen, und fing an zu weinen.
Erik sah ihr verwundert zu.
»Aber Ruth, du Narr!« rief er, und mußte doch lachen, »nun solltest du froh sein und sogar stolz. Was kann es nützen, hinterdrein zu weinen?«
Sie guckte hinter dem Mantelständer hervor und blickte ihn vorwurfsvoll an.
»Ich tue mir so leid!« sagte sie und weinte weiter.
Jonas, der die ganze Zeit mit offnem Munde dagestanden, aber auf einen Wink seiner Mutter seine steigende Verwunderung für sich behalten hatte, sah auf diese Worte hin den Vater ebenfalls sehr vorwurfsvoll an. Er lief in den Flur, um Ruth zu trösten.
*
Eine Stunde später fuhr Ruth aber doch mit ihm und Erik zur Stadt.
Die Mädchen in der Schule warteten schon lange auf ihren Besuch. Es interessierte sie außerordentlich, daß Ruth jetzt bei Erik im Hause lebte, und in jeder Stunde erkundigten sie sich nach ihr bei Erik. Sie fanden, alles sei plötzlich so nüchtern geworden. Nur eine kleine Partei, freilich die beste, vermißte Ruth nicht. Das waren die Musterschülerinnen, die sich jetzt vor ihren Ausgelassenheiten sicher fühlten und durch keine argen Einfälle mehr in Versuchung geführt wurden. Aber die Stimmung blieb flau, und als es nun, so kurz vor den Ferien, zu regnen anfing, da verdüsterten sich die Gesichter auch der Fleißigsten.
So gab es denn eine gewaltige Freude, als Ruth in der Freistunde wieder auf dem Schulhof erschien, mit einem großen Regenschirm, unter dem ihr Gesicht vergnügt hervorschaute. Alle umringten sie, und der Lärm wurde so schlimm, daß im Hinterhause die Leute aus den Fenstern herabschauten, um zu sehen, was es gäbe und warum die Schulvögel noch lauter zwitscherten als sonst.
Ruth war von ihnen die einzige Stille. Als sie so mitten unter ihnen stand, von allen bedrängt, da kam es ihr vor, wie wenn sie aus einer Weltenferne zu ihnen zurückgekehrt sei, und sie wurde fast schüchtern. All das Viele, was sie zu erzählen hatte, all das Viele, worauf jene begierig waren, schmolz zu einem bloßen Blick und Lächeln zusammen, und es blieb nichts als auf ihrem Gesicht der Ausdruck von Kinderglück, der an ihrer Statt erzählte.
Die Schülerinnen schoben sich an der Hauswand aneinander, wo sie das überragende Dach vor dem schwachen Sommerregen schützte, und wie damals, als Erik aus dem Klassenfenster auf sie niederblickte, fand Ruth ihren Platz wieder auf dem umgestülpten Wasserfaß.
Sie erschien den Mädchen verändert, ohne daß diese sagen konnten, wodurch. Denn wie ein Junge im Blusenkittel sah sie noch immer unter ihnen aus, und einen Zopf hatte sie ja auch noch nicht bekommen. Daß sie nicht sprach, entging ihnen vollständig, der in ihnen selbst aufgespeicherte Mitteilungsstoff brannte auf den Zungen, und anstatt dessen, was sie von ihr erfahren wollten, erfuhr Ruth in wenigen Minuten das Schicksal einer jeden einzelnen, von damals bis zu jenem Tage, nebst dem ganzen Gang der »öffentlichen« Angelegenheiten.
Das größte Ereignis stellten sie ihr in Person vor. Das war eine Braut. Eine wirkliche Braut aus ihrer Klasse. Ein großes blondes Mädchen von frauenhafter Gestalt, mit ruhigen, freundlichen Gesichtszügen. Als Legitimation wurde ihr ein Ring von der linken Hand gestreift und seine Inschrift triumphierend vorgezeigt, – der glatte goldene Traureif fiel Ruth in den Schoß.
Die Braut wehrte sich nur schwach dagegen, so als Gemeingut behandelt zu werden. Sie war mit ihren Gedanken begreiflicherweise längst aus der Schule heraus und fühlte sich mit deren Insassen nur noch durch das unendliche Interesse verbunden, das ihr, ihrem Liebsten und ihrem Glück