Ruth - Page 20

Bild von Lou Andreas-Salomé
Bibliothek

Seiten

mache.

Sie fieberte heftig und sprach im Halbtraum wild und wirr durcheinander.

»Der Sandkuchen,« hörte Erik sie mehrmals ängstlich sagen, »er drückt mich so. Er ist immer größer und größer geworden. Ich fürchte mich. Er verschlingt mich. Und anfangs war er so weich und klein und so wunderschön zum Kneten!«

Erik wachte bei ihr, bis der Morgen aufstieg.

Sie warf sich ruhelos in den Kissen umher, und immer wieder sprach sie mit sich selbst in abgerissenen Sätzen. Aber wie ihm schien, waren es keine eigentlichen Fieberphantasien, sondern sie enthielten einen deutlichen Zusammenhang. Es kam ihm der Gedanke, daß sie vielleicht oft so mit sich selbst spräche, ohne daß es ein Mensch hörte, und daß jetzt das Fieber vielleicht nur den gewaltsamen Anstoß gegeben habe, es unbewußt vor Menschenohren zu tun.

Er konnte ihren Worten entnehmen, daß sie sich fortwährend noch mit dem Gewittergang beschäftigte. Manchmal erwähnte sie diesen in einer Weise, als habe sie ihn gar nicht selbst gemacht, sondern als sei sie gegen ihren Willen des Weges geschoben worden, – mit Gewalt hinaus getrieben in Sturm und Blitz und Donnerschläge. Sie sah sich auf dem einsamen, dunkeln Weg dahingehn, während ihr Hagel und Wind entgegentosten und ihre Füße im tiefen durchweichten Lehmboden stecken blieben.

Und damit vermischte sich dann ein andres Fieberbild: der Versuch, vor etwas fortzulaufen, ohne es zu können, wie es wohl im Traume geschieht.

»Ich laufe und laufe, und komme nicht vom Fleck!« klagte sie unruhig, und das Fieber nahm zu, wenn sie daran dachte.

Am nächsten Morgen war Ruth fieberfrei. Als Erik, für seinen Schulgang fertig angekleidet, zu ihr eintrat, saß sie aufrecht im Bett, in einem Nachtjäckchen von Klare-Bel, das ihr zu kurz und zu weit war, und blickte ihm mit schüchternen Augen entgegen.

Auf der Bettdecke lagen Blumen verstreut, die Jonas in aller Frühe hereingschickt hatte. Sogar ein paar fast unversehrte Zweige von seinem Kirschbaum waren dabei. Er hatte sie mit Todesverachtung abgerissen.

»Muß ich nun nach Hause?« fragte Ruth ängstlich.

»Nein, mein Liebling. Du sollst hier doch nicht nur krank liegen, sondern auch gesund umherspringen. Meine Stube wartet ja noch auf dich. Wollten wir nicht zusammen arbeiten?«

»Ja!« sagte sie eifrig und machte eine Anstrengung, wie um aufzustehn, so daß die Blumen von der Decke glitten.

»Aber, mein liebes Kind, doch nicht jetzt im Augenblick. Später!«

»Später!« wiederholte sie gehorsam, indem sie sich zurücklehnte und die Augen schloß.

Erik faßte nach ihrem Handgelenk und prüfte den Puls.

»Wenn ich heute von der Stadt nach Hause komme,« bemerkte er dazwischen, »dann find' ich dich im Garten, im Sonnenschein, und ganz gesund. Nicht wahr?«

»Ja,« sagte sie folgsam, ohne die Augen zu öffnen. Aber auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Leiden oder Kummer, der ihn beunruhigte.

Er beugte sich zu ihr nieder und strich sanft das Haar aus ihrer Stirn.

»Aber nicht nur gesund, Ruth,« fügte er hinzu, »sondern auch froh! Nicht diesen in sich gekehrten, verschlossenen Ausdruck! Du darfst dich nicht wieder so scheu vor mir zuschließen, mein Kind. Bist du denn nicht mehr gern bei mir? Tut es dir nicht wohl, hierher zu gehören?«

Sie schlug die Augen auf und blickte ihn voll an.

»Es ist, als ob ich ins Meer gestürzt wäre,« sagte sie.

*

Erik ging früher als sonst fort, um noch vor Beginn seiner Schulstunden bei Ruths Verwandten vorsprechen zu können. Er traf sie beim ersten Frühstück. Basil ließ ihn erst auf seinen ausdrücklichen Wunsch, etwas zaudernd, in den Speisesaal eintreten, wo sich die Tante, im Morgenhäubchen, noch hinter dem Samowar befand. Sie zeigte sich ein wenig befremdet über den allzu frühen Besuch. Der Onkel, schon im Begriff, wie an jedem Morgen ins Ministerium hinunterzugehn, saß in Militärbeinkleidern und eleganter geschlossener Joppe beim letzten Glase Tee. Er sprang auf und kam Erik mit lebhaften, besorgten Fragen nach Ruth entgegen. Erik erzählte, daß sie auf dem Heimweg umgekehrt, ins Gewitter geraten und vor Aufregung krank geworden sei.

»Das kleine Ding!« äußerte der Onkel in zärtlich besorgtem Ton; er warf sich im stillen vor, daß er Ruth eigentlich dazu aufgemuntert habe, »wegzulaufen«. »Wie schlimm muß das für sie gewesen sein! Schon wenn Ruth einmal unerwartet aus dem Warmen ins Kalte gerät, da schaudert ihr die ganze Haut, und sie zittert. Und dann kann sie sich auch so ganz entsetzlich fürchten.«

Liuba kam herein, begrüßte Erik und schenkte sich mit schlafgeröteten Augen Tee ein; sie war in Gesellschaft gewesen und spät aufgeblieben.

»Ja, Courage hat Ruth mal nicht,« bestätigte sie, »als wir ihr einmal eine Raupe auf den Hals setzten, fiel sie in Krämpfe.«

Erik blickte mit bestürztem Gesicht auf.

»Hat sie dazu Anlage gezeigt?« fragte er langsam.

»Aber nein, sonst niemals!« erwiderte der Onkel ärgerlich, »es ist schon Jahre her. Dreizehn Jahre war sie wohl alt. Es war irgendwo in der Schweiz. Ruth trug ein dünnes Sommerkleid, mit bloßem Halse. Es war sehr schlecht von euch, sie so zu erschrecken, Liuba. Du solltest lieber davon still sein.«

»Wir haben uns doch nichts Böses dabei gedacht,« sagte Liuba, »warum saß sie auch immer so ganz versonnen und vertieft herum, so ganz wie ein Stein, der weder sieht noch hört. Es störte das Spiel der andern. Und da, wie nichts sie aufwecken wollte, setzten wir eine Ligusterraupe auf ihre Halskrause. Aber die Raupe kroch in den Halsausschnitt hinein. Ruth schrie nicht einmal auf. Sie fiel um.«

»Die Hauptsache habt ihr vergessen,« bemerkte die Tante, – »das, was die unartigen Mädchen entschuldigt und Ruths Schreck erklärt. Ruth war nämlich als Kind fest davon überzeugt, daß in den Raupen, Schlangen und allem Gewürm der leibhaftige Böse sitze. Sie steckte überhaupt immer voll von gottlosen Ammengeschichten. Weiß Gott, wo sie die auflas. In solchen Dingen ist Ruth immer so merkwürdig kindisch gewesen und auch geblieben. Sie hat noch heute unvermindert dasselbe Grauen.«

»Aber es ist ihr seitdem alles aus den Augen geräumt worden, was sie daran erinnern könnte,« sagte der Onkel zu Erik.

»Das hätt' es nicht dürfen,« entgegnete dieser bestimmt, aber sein Gesicht war sehr nachdenklich geworden. »Man kann mit Ruth nicht behutsam genug, aber gleichzeitig auch nicht fest genug umgehn, wenn man ihr nützen will.«

Er erhob sich, um Abschied zu nehmen.

Der Onkel schwieg einen Augenblick, zerdrückte stehend seinen Zigarettenrest auf dem Aschenbecher und sagte dann plötzlich

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

Seiten