Grenzterror

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Was ich in meiner letzten Nacht im Stasiknast nicht wusste, Mielke verabschiedete mich mit einer Oiginalunterschrift. Die bekam ich über den BSTU erst vor wenigen Tagen. "Die letzte Nacht im Osten schlief kaum einer von uns. Nach dem Frühstück vergingen noch einmal drei Stunden und dann hörte ich das letzte Mal in einer Haftanstalt des MfS das Wort: Kommen Sie! Über zwei Treppen wurden wir in den Gefängnishof vor der Schleuse geführt. Ich hatte nur meine dünne Jacke an und fröstelte ein wenig. Der Himmel war bewölkt und die Temperatur betrug höchstens 12 Grad. Auf dem Hof stand bereits ein Bus von Magirus Deutz, älteren Baujahres. Das Fahrzeug hatte ein Ostkennzeichen. Wahrscheinlich war ich außer dem Agenten, der mir zuzwinkerte, als ich mir das Nummernschild einprägte, der Einzige, der darauf achtgab. Der Fahrer erklärte mir später in Gießen, wo sich am Bus seltsamerweise ein Westkennzeichen befand, dass ich das Ostnummernschild eigentlich gar nicht hätte sehen dürfen, weil es nach der Einfahrt in das Gefängnis über eine Hebelanlage umgedreht wird. Er hatte es vergessen und vom MfS war es auch übersehen worden. Irgendwann wird irgendetwas immer mal vergessen oder übersehen. Wesentlich moderner erschien mir dagegen der fette Mercedes Benz, der vor dem Bus stand. Er war so geparkt, dass ich die Kennzeichen nicht erkennen konnte. Daraus entstieg ein älterer Herr, im Lodenmantel, westlich gekleidet, der sich mit Dr. Vogel vorstellte. In der Tür des Busses hielt er eine kurze Ansprache: Meine Herren, was hinter ihnen liegt, war bestimmt nicht einfach, aber enthalten Sie sich drüben bitte jeglicher Äußerungen gegenüber der West Presse, geben Sie am besten keine Interviews und verfassen Sie keine Hetzartikel. Schweigen Sie über alles, was Sie hier gesehen haben, dies liegt im Interesse derer, die noch darauf warten in den Westen übersiedeln zu können. Vergessen Sie möglichst rasch was Sie erleben mussten und fangen Sie ein neues Leben an. Es werden jetzt gleich die Frauen in den Bus steigen. Auch wenn Sie sich jahrelang nicht, oder nur besuchsweise sehen durften, heben Sie sich die Freude des Wiedersehens bis nach dem Grenzübertritt auf. Wenn der Bus durch die Grenzübergangsstelle fährt, bleiben sie bitte auf Ihren Plätzen sitzen und enthalten sie sich jeglicher Provokationen. Es ist schon vorgekommen, dass ein Bus angehalten und zurückgeschickt worden ist. Die Fahrt dauert etwa 2½ Stunden, verhalten Sie sich ruhig! Als die Frauen zustiegen, bekamen sie keine extra Ansprache. Sie fielen ihren Männern in die Arme und weinten. Dann wurde das Tor geöffnet und die Kolonne setzte sich in Bewegung. Vorweg ein Moskwitsch, ich ahnte schon, dass hübsche Frauen darin saßen, dann der Mercedes von Vogel und dahinter unser Bus. Den Abschluss bildeten zwei Shiguli Lada 1200 S. Ich saß am Fenster, neben mir der Agent, aber wir unterhielten uns kaum. Die Kehle war zugeschnürt und ich kämpfte mit den Tränen. Wie lange hatte ich keine Bäume mehr gesehen? Die waren zwar noch nicht grün, aber es zeigten sich bereits erste Triebe. Der Blick in die Ferne strengte meine Augen an und doch freute ich mich über jedes Haus, jedes Auto, jeden Vogel den ich sah. Der Osten war nicht gerade Farbenfroh, sondern eher grau, wie die Landschaft um diese Jahreszeit. Die Wiesen und Felder zeigten Ende April, in der Mitte des Frühlings, aber schon grüne Knospen. In einigen Wochen würde alles grün sein und blühen. Wenige Kilometer noch und ich war der Hölle entronnen. Diese Fahrt würde immer die schönste meines Lebens bleiben. Die Freiheit war zum Greifen nah. Ein Blick zum Himmel verhieß nichts Gutes. Die Wolken wurden dichter und obwohl es noch nicht nach Niederschlag aussah dachte ich: Hoffentlich regnet es jetzt nicht. Was hätte wohl Leutnant K. gesagt, wenn es jetzt wie aus Kübeln schüttet: Sehen Sie, Strafgefangener Stein, Sie verlassen die Deutsche Demokratische Republik, und sogar der Himmel weint! Ich saß in einem Reisebus, den Entlassungsschein in der Tasche, der Osten lag beinahe hinter mir, und Leutnant K. fuhr in meinem Kopf mit. Würde ich ihn jemals loswerden? Ich wusste es nicht, aber ich hätte ihm in Brandenburg mit den Worten meines alten Lehrmeisters geantwortet: Ja, Herr Leutnant, Freudentränen! Kurz vor dem Grenzübergang Herleshausen stoppte der Bus. Der westlich gekleidete Fahrer und ein weiterer Mann, den ich für einen Mitgefangenen gehalten hatte und der sich die ganze Fahrt über mit einem älteren Gefangenen aus meiner Zelle unterhielt, stiegen eilig aus und ein anderer Fahrer setzte sich ans Steuer. Ich hätte den Busfahrer, der den Reisebus bis hierher gesteuert hatte, im Leben nicht für einen Stasimann gehalten. Der Kundschafter des Friedens, der Späher an der unsichtbaren Front hatte sich gut getarnt. Der Bus, der jetzt von echten Westdeutschen gesteuert wurde, nahm wieder Fahrt auf und fuhr einfach auf einer freien Spur über den Grenzübergang. Als wir die Grenzposten hinter uns ließen, hielt die anderen nichts mehr in den Sitzen. Die meisten sprangen auf, einige schrien: Freiheit! Ich saß unbeweglich am Fenster, die Grenzsicherungsanlagen zogen wie in Zeitlupe an mir vorbei, und ich brachte kein Wort heraus. Mit feuchten Augen wartete ich darauf weinen zu können, aber ich konnte es nicht. Ich wollte auch schreien, so jubeln wie die anderen, aber ich spürte nur eine unsägliche Leere. So einfach war das also. Man fährt in einem Reisebus durch den Grenzübergang. Keiner schießt, kein Reisedokument wird geprüft, man muss nicht über Mauern springen oder über Zäune klettern. Über 4½ Jahre hatte ich von meinem 15. Lebensjahr an in elf ostdeutschen Gefängnissen gesessen. Das war der Preis. O Deutschland meine Trauer, dich trennt `ne dicke Mauer und wenn man sich der Mauer naht, läuft durch das Mienenfeld, springt über Stacheldraht, und rennt dann weiter, unverdrossen, wird man erschossen von Genossen. Mein Gedicht, das ich im Licht des Turmscheinwerfers nachts als 15 Jähriger in Rummelsburg geschrieben hatte, während die Wachhunde in der Kälte jaulten, kam mir in den Sinn. Nein, erschossen hatten die Schweine mich nicht, aber meine Gefühle musste ich selber töten um zu überleben."

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Kommentare

22. Mär 2018

Lieber Thomas,
Du hast als Jugendlicher nach Deinem Fluchtversuch Schreckliches erlebt in der DDR. Die dargestellte Szene ist drastisch, brutal, schwer erträglich, selbst als Leser kaum auszuhalten.
Leser, die Dich und Deine Geschichte nicht kennen, und einfach den Text anklicken, werden sicher nicht wissen, um welche Zeit es sich handelt und worum es geht, vielleicht wären deshalb ein, zwei Sätze zur Vorstellung nötig.

Herzliche Grüße, Monika

24. Mär 2018

Hallo Monika! Danke für den Hinweis. Ich wollte das Buch selbst nicht erwähnen, weil ich den Vertrag mit BoD in den nächsten Wochen kündige. Aber da ein 2. (inzwischen von mir bearbeiteter Text) demnächst folgen wird, könnte ich vielleicht voranstellen: Aus meiner Autobiographie....

22. Mär 2018

Ja, der Text nimmt wirklich mit -
das soll er aber ja auch ...
Ich gebe Monika recht: Einige kurze (chronologische)
Hinweise (in der Beschreibung) wären ganz gut.
Die Kleinschreibung der Höflichkeitsform (SIE) erschwert
das Lesen ein wenig - wobei der Terminus "Höflichkeit"
an der Stelle merkwürdig anmutet ...

LG Axel

24. Mär 2018

Sollte ich das Sie besser groß schreiben? Ich dachte, dass macht man nur im Brief?

24. Mär 2018

Also, aufgrund der Verwechslungsgefahr gilt für diese Höflichkeitsform ("Sie/Ihnen")
generell die Großschreibung.
Die Chose mit dem Brief trifft lediglich aufs Duzen/Du zu - hier existiert eine Wahloption
zwischen Groß- und Kleinschreibung.
(Wobei es in "klassisch" konzipierten Gedichten durchaus angemessen und sinnvoll
sein kann, "Du" statt "du" zu verwenden ...)

LG Axel

26. Mär 2018

Ich werde es verbessern undzwar im gesamten Buch. Da ist die Suchfunktion in Word echt hilfreich.

26. Mär 2018

Ja, das macht es dem Leser etwas leichter - und es gibt eben
keine Verwechslungen mit dem Plural.

LG Axel