Weitere 14 Tage gingen ins Land. Das Essen blieb schlecht, obwohl der Teller mit den fauligen Kartoffeln eine Ausnahme war. Dann passierte innerhalb von zwei Tagen alles auf einmal. Nach einer gründlichen ärztlichen Untersuchung bekamen wir in der Kammer unsere Zivilsachen und ein Major des MfS übergab jedem die Urkunde, mit der die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR wirksam wurde. Meine Urkunde war schon vor einer Woche ausgefertigt worden. Des Weiteren bekam jeder einen Entlassungsschein mit Passfoto. Der Major ermahnte mich, mit den Dokumenten pfleglich umzugehen, da ich über keine weiteren Personaldokumente verfüge.
Auf der Zelle durchsuchte ich meine Jacke so sorgfältig wie nur möglich, aber auch nach gründlichster Untersuchung des Kleidungsstückes stand leider fest, dass Etikett mit der Aufschrift MfS war verschwunden. Scheiß der Hund drauf! Die letzte Nacht im Osten schlief kaum einer von uns. Nach dem Frühstück vergingen noch einmal drei Stunden und dann hörte ich das letzte Mal in einer Haftanstalt des MfS das Wort: Kommen sie!
Über zwei Treppen wurden wir in den Gefängnishof vor der Schleuse geführt. Ich hatte nur meine dünne Jacke an und fröstelte ein wenig. Der Himmel war bewölkt und die Temperatur betrug höchstens 12 Grad. Auf dem Hof stand bereits ein Bus von Magirus Deutz, älteren Baujahres. Das Fahrzeug hatte ein Ostkennzeichen. Wahrscheinlich war ich außer dem Agenten, der mir zuzwinkerte, als ich mir das Nummernschild einprägte, der Einzige, der darauf achtgab. Der Fahrer erklärte mir später in Gießen, wo sich am Bus seltsamerweise ein Westkennzeichen befand, dass ich das Ostnummernschild eigentlich gar nicht hätte sehen dürfen, weil es nach der Einfahrt in das Gefängnis über eine Hebelanlage umgedreht wird. Er hatte es vergessen und vom MfS war es auch übersehen worden. Irgendwann wird irgendetwas immer mal vergessen oder übersehen.
Wesentlich moderner erschien mir dagegen der fette Mercedes Benz, der vor dem Bus stand. Er war so geparkt, dass ich die Kennzeichen nicht erkennen konnte. Daraus entstieg ein älterer Herr, im Loden-mantel, westlich gekleidet, der sich mit Dr. Vogel vorstellte. In der Tür des Busses hielt er eine kurze Ansprache: Meine Herren, was hinter Ihnen liegt, war bestimmt nicht einfach, aber enthalten Sie sich drüben bitte jeglicher Äußerungen gegenüber der West Presse, geben Sie am besten keine Interviews und verfassen Sie keine Hetzartikel. Schweigen Sie über alles, was sie hier gesehen haben, dies liegt im Interesse derer, die noch darauf warten in den Westen übersiedeln zu können. Vergessen Sie möglichst rasch was Sie erleben mussten und fangen Sie ein neues Leben an. Es werden jetzt gleich die Frauen in den Bus steigen. Auch wenn sie sich jahrelang nicht, oder nur besuchsweise sehen durften, heben Sie sich die Freude des Wiedersehens bis nach dem Grenzübertritt auf. Wenn der Bus durch die Grenzübergangsstelle fährt, bleiben Sie bitte auf ihren Plätzen sitzen und enthalten Sie sich jeglicher Provokationen. Es ist schon vorgekommen, dass ein Bus angehalten und zurückgeschickt worden ist. Die Fahrt dauert etwa 2½ Stunden, verhalten sie sich ruhig!
Der Osten war nicht gerade Farbenfroh, sondern eher grau, wie die Landschaft um diese Jahreszeit. Die Wiesen und Felder zeigten Ende April, in der Mitte des Frühlings, aber schon grüne Knospen. In einigen Wochen würde alles grün sein und blühen. Wenige Kilometer noch und ich war der Hölle entronnen. Diese Fahrt würde immer die schönste meines Lebens bleiben. Die Freiheit war zum Greifen nah. Ein Blick zum Himmel verhieß nichts Gutes. Die Wolken wurden dichter und obwohl es noch nicht nach Niederschlag aussah dachte ich: Hoffentlich regnet es jetzt nicht. Was hätte wohl Leutnant K. gesagt, wenn es jetzt wie aus Kübeln schüttet: Sehen sie, Strafgefangener Stein, sie verlassen die Deutsche Demokratische Republik, und sogar der Himmel weint! Ich saß in einem Reisebus, den Entlassungsschein in der Tasche, der Osten lag beinahe hinter mir, und Leutnant K. fuhr in meinem Kopf mit. Würde ich ihn jemals loswerden? Ich wusste es nicht, aber ich hätte ihm in Brandenburg mit den Worten meines alten Lehrmeisters geantwortet: Ja, Herr Leutnant, Freudentränen!
Im Zentrum des Buches steht die 4½ jährige DDR-Haft des Thomas S. Eine sehr persönliche Geschichte. 1972 versucht er mit 15 in den Westen abzuhauen, wird zu Jugendhaus verurteilt und im Gefängnis vergewaltigt. 1976 sperrt ihn die Stasi wegen Republikflucht und Grenzterror ein. Auf GRENZTERROR stand in der DDR die Todesstrafe!
Ein spannend zu lesendes, manchmal bis an die Grenze des Erträglichen, reichendes Zeitzeugen-Dokument.