Gefährlicher Sommer (Teil 19; Text 1)

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von Annelie Kelch

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Ich ging durch das Dorf und sah das Gewohnte.
Der Schäfer hielt den Widder gefesselt zwischen
den Knien. Er schnitt die Klaue, er teerte die
Stoppelhinke. Und Frauen zählten die Kannen,
das Tagesgemelk. Nichts war zu deuten.
Es stand im Herdbuch ...
(Peter Huchel, „Das Zeichen“)

Der Überfall (Teil 19; Text 1)

Bis in die Kastanienallee hinein beschäftigten sich meine dummen Gedanken mit Helge, und ich fragte mich immer wieder, weshalb ihn der gute Herkules nicht längst abgeworfen hatte.
,Was nicht ist, kann noch werden', kam mir Muttis Lieblingsspruch in den Sinn, den ich früher töricht fand. – Aber falls der gute Herkules immer noch nicht gecheckt hat, welche Kanaille er durch die Gegend trägt, wird ihm auch in allernächster Zukunft kein Licht aufgehen, dachte ich.
Als ich in die Allee zum Hof bog, sah ich zwei Gestalten vor der Veranda Posten schieben: Diejenige auf vier Beinen war die gute Leni und die zweibeinige Gestalt gehörte dem klugen Luchs. Oh, entschuldige bitte; es war selbstverständlich umgekehrt, liebe Christine.
Je näher ich dem Herrenhaus kam, desto verzweifelter dünkte mir Lenis Gesichtsausdruck. Händeringend und vollkommen aufgelöst stand sie neben der Freitreppe, und Luchs, der liebe alte Kerl, schlich geduckt und mit hängendem Kopf um sie herum.
„Katja“, seufzte Leni, nachdem mein schlechtes Gewissen und ich vom Fahrrad gesprungen waren, „deine Oma ist fuchsteufelswild. Hättest du nicht Bescheid sagen können? Anita hätte gewiss nichts dagegen gehabt, dass du Hannes ein Stück begleitest.“
„Es sind Ferien, Leni“, sagte ich mit fester Stimme. „Und 'Ferien haben' bedeutet, dass man sich nicht nach der Zeit richten muss. Du kannst Oma und Mutti ausrichten, dass ich heute auf das Frühstück verzichte.“
Ich drehte mich um und verstaute das Fahrrad im Schuppen.
„Katja!“ – Leni war mir gefolgt. „Du kannst bei uns essen“, sagte sie. Schweigend gingen wir nebeneinander durch den Vorraum in die Gutsküche.
„Eigentlich hast du Recht, Katja; aber eigentlich auch wieder nicht.“
„Wie darf ich das verstehen, Leni?“
„Nun, es kommt ganz auf den Standpunkt an“, philosophierte sie.
„Wie bei fast allen Dingen im Leben“, stellte ich nüchtern fest.
Leni deckte den Tisch und wir frühstückten in aller Seelenruhe – selbst gebackenes Brot, Butter, Kirschmarmelade und kuhfrische Milch, die mir ein wenig zu fett war.
„Wohin wollte Helge denn schon so früh?“, erkundigte ich mich beiläufig.
„Nach Lübeck“, sagte Leni ohne jeden Argwohn in der Stimme. – Ich verschluckte mich dermaßen heftig, dass sie vom Stuhl sprang und mir wie eine Irre auf den Rücken klopfte.
„Auf Herkules?“, keuchte ich ungläubig.
„Wieso?“, fragte Leni. „Er ist doch mit seinem Auto weggefahren.“
„Nein, er kam mir eben mit Herkules über den Weg geritten.“ Leni griente.
„Über den Weg geritten ist ...“ Sie stockte und starrte auf die halb geöffnete Küchentür: Opa stand wie angewachsen auf der Holzschwelle. Er sah aus wie das „Gespenst von Canterville“ – totenbleich.
„Das kann doch wohl nicht wahr sein, Katja, dass du schon wieder bei Leni steckst“, stieß er hervor.
„Edmund“, gab Leni mit zitternder hoher Altweiberstimme zur Antwort. „Nun stellt euch doch bloß nicht immer so an. Das Kind hat Ferien. Kaum ein Mensch frühstückt im Urlaub oder in den Ferien jeden Morgen um dieselbe Uhrzeit.“
„A-a-aber Anita ...“, stotterte Opa an und holte tief Luft.
***
„Guten Morgen, Edmund“, summte Frau Brandner und strahlte uns der Reihe nach an, mit dem bezauberndsten Lächeln der Welt. Die Gutsherrin war über den Vorraum in die Küche geschwebt und schien blendender Laune zu sein. Der Theaterabend in Hamburg ist ihr hervorragend bekommen, dachte ich.
„Was hat unsere Katja denn nun schon wieder angestellt?“, wollte die Gnädigste wissen und lächelte Opa freundlich an.
„Nininichts“, stammelte mein in Liebe entflammter Großpapa und wurde rot wie ein junges Mädchen. Er wird meistens rot, wenn die Gnädigste das Wort an ihn richtet, liebe Christine.
„Nun, dann ist doch alles in bester Ordnung, Edmund, nicht wahr“, zwitscherte Frau Brandner und sprang leichtfüßig wie eine Gazelle an das große Küchenbüffet, fischte vier braune Eier aus dem Eierkorb und drückte sie meinem verdutzten Opi in die Hände.
„Für Anita und den nächsten Kuchen, mit bestem Gruß“, trällerte sie. Sie sang es in der Tat, liebe Christine, und zwar ziemlich gut. Ich kam mir tatsächlich vor, als sei ich in einer komischen Oper gelandet, denn Leni kicherte dazu nervös vor sich hin, während sie mit dem Morgengeschirr klapperte.
Im letzten Akt erschien dann auch noch Kröger in der Küche und brummte ärgerlich: „Hast du denn immer noch keinen anständigen Kaffee gekocht, Lene?“
Mir schwirrte plötzlich der Kopf von dieser grotesken Vorstellung, und ich lief in den Hof und suchte verzweifelt nach dem hellblauen VW, mit dem Helge angeblich unterwegs nach Lübeck war; aber ich fand ihn nicht. Der Platz vor der alten Ziegelsteinmauer des Pferdestalls, wo er sein Vehikel zu parken pflegt, sobald er Hof Lachau mit seiner Gegenwart „beglückt“, lag fromm, friedlich und blechfrei im Sonnenlicht. Du kannst dir gewiss vorstellen, welch krause Gedanken mir durch den Kopf schwirrten, als ich mir Helge und Hannes allein in ein und derselben Stadt vorstellte: Hannes im Landgericht, in irgendeiner Registratur über Akten brütend, komplizierte Schriftsätze wälzend und Zeugenaussagen auswertend, und Helge wohl kaum im Gasthof „Zur Alten Farm“ bei Speis und Trank, sondern hinter Hannes herspionierend. Am liebsten wäre ich sofort zu Axel Kröger gelaufen und hätte ihm alles gebeichtet, aber irgendetwas hielt mich davon ab. Weshalb um alles in der Welt hatte ich Leni nicht gefragt, was Helge in Lübeck wollte?
***
Ich hielt es für gescheiter, Oma, Mutti und Opa aus dem Weg zu gehen und beschloss, Tante Selma aufzusuchen, um den Vormittag mit Kora und Konny zu verbringen. Hannes fehlte mir bereits sehr, und zu diesem Verlassenheitsgefühl gesellten sich meine berechtigten Sorgen um ihn, die zu einem horizontfernen Kummermeer angeschwollen waren, das mit jeder Sekunde, die Helges Abwesenheit vom Gut währte, tiefer und größer zu werden schien. Ich musste mich ablenken, um nicht durchzudrehen.
In jenem Augenblick, als ich im Begriff war, den Hof zu verlassen, fuhr mir ein riesiger Schreck durch die Glieder: Etwas unerhört Dickes, Felliges prallte mit einem Mal gegen mich und riss mich fast zu Boden. – Tom! Er bellte wie ein Tobsüchtiger und gab mir

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