Komm, ich baue dir eine Brücke.
Der Mantel des Vergessens
Ist ausgebreitet.
Ich baue
mit den Tränen der Vergangenheit
an der Zukunft.
Betrete die Brücke,
nimm meine Hände.
Vereint wollen wir dem
anderen Ende zuschreiten.
(„Die Brücke zu dir“; Grete Wassertheurer
in: „Das kleine Buch der Liebe“)
Befreiung und Verhör (Text 3)
„Viel früher, Katja, aber noch im zwanzigsten Jahrhundert irgendwann“, begann Hannes, seinen Kaugummi in die linke Backentasche befördernd, eine neue Rede neben Konny und mir im gut besetzten Bus, „... also damals wurden in einem Nest in Tirol, am ,anus mundi', ...“
„Bitte, wo, Hannes?“, unterbrach ich ihn entgeistert.
„Ich ging davon aus, dass du Latein verstehst, Katja. Unterbrich mich bitte nicht dauernd. ,Am Arsch der Welt' heißt das selbstverständlich … ich wiederhole: ... wurden in einem Nest in Tirol die verhafteten Wilderer mit heruntergelassenen Hosen von den Jägern auf den Marktplatz geführt. Wie gut, dass der Lübecker Bevölkerung dieser Anblick erspart bleibt. Helges und Heiners Hinterkastelle sind vermutlich wenig reizvoll, von ihren Piephähnen einmal ganz zu schweigen. Ach ja, das Leben kann echt tödlich sein.“
Er wieherte plötzlich los wie eine scheintote Tüpfelhyäne, und Konny, der uns unbedingt auf das Polizeikommissariat nach Lübeck begleiten wollte, hielt sich mit verzweifeltem Gesichtsausdruck den Kopf.
„Was für hirnrissige Sitten“, stellte ich beklommen fest. – Bist du nicht auch dieser Meinung, liebe Christine?
„Jäger sind mir ohnehin nicht geheuer“, bekannte Hannes.
„Damals haben viele von denen mit den Wilderern gemeinsame Sache gemacht.“
„Gewiss nur deshalb, weil sie sehr arm waren“, erwiderte ich. „Die Förster natürlich und ... na ja, die Wilderer sowieso.“
„Gut möglich“, meinte Hannes. „Müsste man mal nachlesen.“
„Glaubst du, dass das Jagen sittlich ist, ich meine, im Sinne von Kant?“, fragte ich Hannes.
„Also wirklich, Katja“, empörte er sich, „als ob du nicht ganz genau wüsstest, dass ich niemals auch nur eine Zeile über diesen komischen Imperativ gelesen habe ...“
„Kategorisch“, warf ich ein, „kategorischer Imperativ, Hannes. Der besagt in etwa, dass du allein nach jenen Maßstäben handeln solltest, von denen du auch wolltest, dass sie allgemeines Gesetz würden.“
Hannes seufzte tief. „Und was hat das alles mit der Jagd zu tun?“
„Stell dich bitte nicht dümmer als du bist“, gab ich mit gespieltem Protest zur Antwort: „Freizeitjäger jagen doch nur zum Eigennutz. Sie verspüren Lust beim Töten von Tieren. Das ist unsittlich. – Zumindest im Sinne von Kant.“
„Sag ich doch. Weshalb fragst du so dumm, wenn du es längst weißt, Katja Kleve?“, brummelte Hannes.
Der Bus bog um eine scharfe Kurve, und Hannes wandte sich von mir ab und presste sein Gesicht gegen die leicht getönte Scheibe, als sehe er die Landschaft, die, als sei sie vor uns auf der Flucht, wie ein riesiger Schatten vorüberflog, zum allerersten Mal. Dabei darf er fast jedes Wochenende auf Lachau oder zumindest in nächster Nähe des Guts verbringen, bei seiner Tante Selma, liebe Christine, sofern er keine schlechten Zensuren mit nach Hause bringt. Ich an seiner Stelle hätte mit Sicherheit nur noch Einsen und Zweien geschrieben, selbst in Algebra und Physik. Wenn ich mich nämlich nur ein wenig dafür interessieren würde … aber das darf niemand wissen, Christine, anderenfalls würden sie mich zwingen, für diese Fächer zu lernen. Ich habe nämlich noch nie was für Mathe und Physik getan. Das wissen meine Eltern aber nicht. Sie glauben, ich sei zu unbegabt dafür oder zu doof. Und zeigen tatsächlich eine Spur von Mitleid, die mich manchmal fast sprachlos, aber auch lächeln macht.
Mich beschlich ein kleinliches Neidgefühl, als ich daran dachte, wie schön ruhig es im Winter auf Lachau ist, der Hof schneebedeckt, die warme riesige Küche mit dem knisternden Herd, der Holz und Kohle frisst, als sei beides sein Leibgericht, und daneben liegt der gute Luchs, alle Viere von sich gestreckt. Nicht zu vergessen Leni, die Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlt – ein menschlicher Ofen, der auch im Sommer nicht erlischt.
„Sag mal, Katja, hast du die Gnädigste schon mal in der Nähe der Schweinekoben oder in den Kuhställen gesichtet?“, unterbrach Hannes nach einer friedlichen Weile meine warmen Gedanken.
„Nein, Hannes, immer nur in respektvoller Ferne dieser tierisch duftenden Gebäudekomplexe“, gab ich wahrheitsgemäß zur Antwort.
„Ich kann mir das auch beim besten Willen nicht vorstellen: Die Gnädigste neben einer Sau oder einem Bullen, womöglich noch auf einer Fotografie.“ Hannes schüttelte energisch seinen mit bizarren Gedanken gefüllten Kopf.
„Mein Vater hat mir übrigens erzählt, dass dir beim Ausmisten des Kuhstalls ziemlich übel geworden ist. Du sollst hinter der Weißdornhecke wie ein Reiher gekotzt haben.“
„Ja, Hannes“, gab ich unumwunden zu. „Mir ist speiübel geworden. Das kann jedem passieren. Aber es war nicht nur das erste, sondern auch das letzte Mal, dass ich deinem Vater beim Ausmisten des Kuhstalls geholfen habe. Ich bin kuriert.“
„Du bist immer noch ziemlich blass, dabei warst du schon so schön braun. Was werden deine Freunde denken, wenn du derart angriffen nach Hause zurückkehrst?“
„Ich werde ihnen erzählen, dass ich mit dir einen Mord aufklären musste, der aktenmäßig bereits unter ,vorläufig unaufklärbar' abgelegt worden war.“
„,Aufklären musste', Katja? Wir mussten gar nichts. Dir ließ dieser saublöde Mord einfach keine Ruhe.“
„Hauptsächlich deshalb, weil Knut ein sehr guter Freund war, wie du längst weißt, Hannes“, erwiderte ich und sah zu Konny hinüber, der beharrlich schwieg.
Nachdem wir am Haus von Tante Sarah und Onkel Hör-moln-beeten-tau vorbeigerauscht waren, sang ich Hannes das Lied vom freien Wildbretschütz leise ins Ohr – das mit „dem weiten Revier“, und fragte ihn, ob er im Musikunterricht auch solch seltsame Lieder schmettern müsse.
„Nee“, sagte Hannes und überlegte kurz. „... aber Horst-Wessel-Lieder!“
„Gelogen ...“, stieß ich entgeistert hervor.
„... oder haben die Nazis dieses Heldenstück etwa nicht gegrölt?“, fragte Hannes und krächzte: „,Wildgänse rauschen durch die Nacht, mit schrillem Schrei nach Norden ...'“
„Nicht so laut, Hannes“, wisperte ich.
Die anderen Fahrgäste hatten sich neugierig nach uns umgeschaut. Wir saßen natürlich wieder ganz hinten.
„,... mit schrillem Schrei nach Norden. Unstete Fahrt! Habt Acht,
habt Acht! Die Welt ist voller Morden'“, flüsterte Maceath.
„Und jetzt die zweite Strophe, Katja, hör moln beeten tau“, griente Hannes und fuhr fort: „,Wir sind wie ihr ein graues Heer und fahrn in Kaisers Namen. Und fahrn wir ohne Wiederkehr, rauscht uns im Herbst ein Amen'. Schrecklich, nicht? Statt Kaiser kann man natürlich auch Napoleon, Zar Peter, Stalin oder Hitler einsetzen.“
„Napoleon und Zar Peter nach Norden?“, fragte ich ungläubig.
„Hm“, machte Hannes unsicher. „Und der meschugge Diktator?“
„Na, Hitler, diese Dumpfbacke, hat doch jede Himmelsrichtung mitgenommen, die er kriegen konnte“, knurrte ich entrüstet.
Hannes feixte vor sich hin – von einem Ohr zum anderen –, wie das abgefeimte Rumpelstilzchen, nachdem es sich absolut sicher wähnte, dass die aufs Gold versessene Königin nie und nimmer seinen skurrilen Namen erraten würde.
„Und wie wäre es mit ,Kein schöner Tod ist auf der Welt, als wer vom Feind erschlagen'“, fragte ich Hannes mit einem skeptischen Grienen. „Das musste meine gestrenge Omi früher singen.“
„Ach, du meine Güte! Unglaublich!“, stöhnte er. „Welch infantiles Volk!“
„Infantil, Hannes? Ganz gewiss nicht! Von allein kommen Kinder wohl kaum auf solche Gedanken. Ein derart dämliches Zeug können sich nur Erwachsene ausdenken“, verteidigte ich die Winzlinge. „Das lief wohl eher unter ,wilhelminischer Pädagogik'. Die hat Oma Anita Wilhelmine Caroline sogar heute manchmal noch selber drauf.“
„Wer bereut, gesündigt zu haben, ist fast unschuldig“, warf Konny plötzlich – völlig zusammenhangslos – ein. Ich hatte ihn fast vergessen. Seit Heiner und Helge abgeführt worden waren, hatte er kaum seinen Mund aufgetan.
„Ach,“ sagte Hannes süffisant. „Haben dich deine Lateinkenntnisse auch mal im Stich gelassen? Katja scheint ja auch nicht mehr auf dem Laufenden zu sein.“
„Nie im Leben lassen die mich im Stich“, grinste Konny und deklamierte mit einer gewissen Herablassung: „Quem paenitet peccasse ...“
„Ist ja gut, Konnymaus“, stöhnte Hannes dazwischen. „So genau wollte ich das nun auch wieder nicht wissen.
„... paene est innocens“, vollendete Konny ungerührt.
„,Innocens'?“ – Hannes' Augen leuchteten auf. „Genau wie im Englischen: ,innocent'! Heißt doch ,unschuldig', nicht wahr, Katja?“ Er strahlte mich an.
„Gut, Hannes“, lobte ich ihn ohne jede Ironie.
Der Bus hielt – zu unserem Erstaunen bereits am „Kohlmarkt“. Wir stiegen aus. Den Rest des Weges wollten wir zu Fuß zurücklegen, liebe Christine. Wie du ja längst weißt, ist Lübeck eine durchaus sehenswürdige Stadt. Außerdem wollte Hannes mich unbedingt fotografieren – neben dem kleinen Teufel, der auf einem Steinblock vor der Marienkirche hockt. Ich hätte auch solch Hörnchen auf dem Kopf sitzen, die dauernd durch die Wand wollten. Man könne sie bedauerlicherweise nur nicht sehen.
...