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Marc und ich betraten das Mietshaus, ein älterer Mehrfamilienbau am Ende der Wichertstraße. Brenda wohnte im dritten Stock. Wir befanden uns noch auf der Treppe im Hausflur, als mir das Siegel ins Auge fiel, das aufgebrochen war.
„Was ist da los, Marc?“, fragte ich entgeistert, „du hast mir doch erklärt, Brendas Nachbar würde Obacht geben, das niemand die Wohnung betritt.“
„Bleib ruhig, Nora“, sagte Marc. „Ich habe die 'Spusi' dorthin beordert, bevor ich ins Revier gefahren bin. Du hattest recht … eigentlich hätten die Räume bereits während unserer ersten Stippvisite gründlich durchsucht werden müssen; aber wir glaubten ja, den Tatort zu kennen, als wir nach Bendingerode fuhren; vielmehr vermuteten wir, dass es sich bei dem Apfelgarten um den Tatort gehandelt hat und hofften, auch die Mordwaffe in dieser Gegend zu finden.
„Habt ihr?“, fragte ich.
„Nein“, sagte Marc, „aber es ist mehr als ein glücklicher Zufall, dass ich nach Kollberg als erster bei der Leiche war und Brenda sofort identifizieren konnte, anderenfalls hätte es erheblich länger gedauert, bis wir Kenntnis über ihren Wohnort erlangt hätten.“
„Schon gut“, sagte ich und zog den Schutzoverall über meine Zivilkleidung. Marc, bereits in voller Montur, reichte mir Handschuhe, Mund- und Schuhschutz und stieß die Tür auf.
Zwei Männer von der Spurensicherung standen in der Küche und stäubten den Fensterrahmen mit Rußpulver ein, um Fingerabdrücke zu sichern.
„Habt ihr was gefunden, Peer?“, fragte Marc.
„Im Badezimmer haben wir ein paar Blutspritzer entdeckt, mit bloßem Auge erkennbar“, sagte der jüngere der beiden, „winzig klein, aber säuberlich fein; ich mache gleich den Luminoltest.“
Er hob den Spurensicherungskoffer auf, der im Flur stand, und ging ins Badezimmer. Marc und ich folgten ihm. Brendas Bad war wie die Küche aufgeräumt und sauber. Ihre Wohnung war einfach, aber nett eingerichtet. Auffällig waren lediglich drei Bücherregale, die, nebeneinander gestellt, bis an die Decke reichten. Jedes Bord war bis zum Rand mit Büchern vollgepackt. Hätte ich gewusst, dass Brenda dermaßen versessen aufs Lesen war, hätte ich ihr an jedem ihrer Geburtstage ein Buch geschickt. Es brachte mir fast ebenso viel Spaß Bücher zu verschenken, wie neue Werke für meine eigene umfangreiche Bibliothek zu erwerben.
„Hast du Brendas Mutter eigentlich gekannt?“, fragte Marc plötzlich.
„Ja“, sagte ich. „Imke und ich waren während unserer Schulzeit einmal bei Brenda zu Hause. Damals wohnte sie noch im Querweg hinter der Aluminiumfabrik. Ihre Mutter war unglaublich nett zu uns. Eine sehr herzliche und fröhliche Person - über die viel getratscht und gelacht wurde, zu Unrecht, wie ich fand. Sie war einfach nur nett und ganz gewiss nicht dumm.“
„Das hat mir schon mal jemand erzählt. Deshalb verstehe ich nicht, weshalb Brenda immer so fürchterlich ernst war“, sagte Marc.
„War sie das?“, fragte ich.
„Klar“, sagte Marc, „ständig.“
„Ich erinnere mich, dass es in der Wohnung am Querweg nicht nur außergewöhnlich dunkel gewesen ist, sie war auch dermaßen spärlich eingerichtet, dass die Räume wie Gästezimmer wirkten - ohne einen einzigen persönlichen Gegenstand - Blumen, Bilder und so weiter. Ärmlich, irgendwie. Brendas Mutter hat wohl wenig verdient in der Fabrik.“
„Okay“, sagte Marc, „Aber das allein kann nicht der Grund dafür gewesen sein. Bei anderen Leuten, deren finanzielle Lage ähnlich war, sah es trotzdem wohnlich und nett aus. Irgendwie passte bei Brenda nichts zusammen. Ihre Mutter ist vor drei Jahren an Krebs gestorben, wusstest du das?“
„Brenda hat es mir vor einigen Monaten geschrieben; ich glaube, ich habe ihre Postkarte aufbewahrt.“
„Nun schaut euch das mal an!“ Peer hatte inzwischen Brendas Badewanne und sämtliche Kacheln mit einer Luminollösung eingesprüht und die Gardinen zugezogen. Der Raum war total mit Blut kontaminiert, das in Mediumblue lumineszierte und uns förmlich ansprang.
„Hier war der Tatort“, sagte Peer. „Wahrscheinlich hat sie außer der Kopfverletzung noch andere Wunden am Körper davongetragen. Wann bekommt ihr den Pathologiebericht?“
„Spätestens übermorgen“, sagte Marc. „Hoffentlich sind die Spuren jetzt nicht verhunzt, damit man noch DNA-Tests machen kann. In den USA benutzt die 'Spusi' statt Lumisol neuerdings Infrarot-Licht. Damit kann man noch 100-fach verdünntes Blut nachweisen. Das ist sauberer und nicht so gesundheitsschädlich wie unsere Methode.“
Als wir uns nach gut einer Stunde alleine in der Wohnung befanden, begann Marc, sämtliche Schubladen zu durchsuchen. Ich öffnete eine der Türen des Sideboards, das an der Stirnseite des Wohnzimmers stand und entdeckte ein fast neues Fotoalbum. Ich schlug das gute Stück mit dem hübschen Rosen-Design in der Mitte auf und ein paar Fotos fielen heraus, die mir sehr bekannt vorkamen. Es handelte sich um jene, die ich im Nachlass meines Großvaters vermisst hatte.
„Wie kommen meine Fotos in Brendas Album?“, fragte ich und sah zu Marc hinüber.
„Ach“, sagte Marc und kam zu mir rüber. „Tatsächlich, Nora. Ich habe keine Ahnung, hast du sie Brenda nicht selbst geschickt?“
„Nein“, sagte ich mit fester Stimme. „Ganz sicher nicht. Das ist höchst merkwürdig. Sie gehörten meinem Großvater und befanden sich nicht in seinem Nachlass. Ich habe sie überall gesucht. Hat Opa Meinhard sie dir gegeben und du hast sie Brenda überlassen? - Eine andere Erklärung fällt mir dazu nicht ein.“
„Nicht ganz“, sagte Marc verlegen. „Ja, dein Opa hat sie mir geschenkt. Ich habe ihn oft besucht, nachdem ich dich in unserem Altersheim angetroffen habe. Das war eine Freude! Ich war eine Zeitlang total happy, bis …
Wir haben fast jedes Mal Fotos angeschaut, dein Opa und ich. Er hat wohl bemerkt, dass ich … es ist so, Nora: Brenda hat sie mir geklaut.“
„Brenda war in deiner Wohnung?“
„Muss wohl“, sagte Marc. „Nicht in meinem Appartement, sondern vermutlich in dem Zimmer, das ich in der Wohnung meines Bruders genommen habe. Dort hatte ich die Fotos aufbewahrt.“
„Was hatte Brenda in eurem Altersheim zu suchen?“ - Die Sache kam mir zusehends unglaubwürdiger vor.
„Sie hat eine Weile bei uns gearbeitet, in der Küche, wurde dann aber krank und musste die Stellung aufgeben.“
„Damit hat sich der Kreis der Verdächtigen ganz erheblich erweitert“, gab ich Marc zu bedenken. „Das Beste wird sein, wir fangen gleich morgen früh mit den Vernehmungen an.“
„Lass die Alten in Frieden, Nora“, sagte Marc. „Die haben mit der Sache nichts zu tun.“
„Das könnte dir so passen, Marc“, hatte ich erwidert. „Wir müssen jeden befragen, der mit eurem Heim in Verbindung steht. Möglicherweise liegt der Hund dort begraben.“
„Welcher Hund?“, fragte