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sollte, die, weil es von Freindersheim logischerweise weiter war, noch ein paar Mark mehr als neunvierzig ausmachen konnte.
„Ich bin da von ganz falschen Voraussetzungen ausgegangen. Ich war jetzt zwei Jahre nicht mehr hier in Freindersheim. Man hat mir auch extra gesagt, dass die zwanzig Mark, die man nach zehn zahlen muss ...“ „Ja! Ja! Ja!“, fiel es ihm ins Wort. „Kenne Sie sisch auswoise?“ Dann nämlich dürfe er hier dieses Formular ausfüllen und unterschreiben, womit er zusichere, dass er die siebzehn Mark von zu Hause aus überweisen werde in den fünf nächsten Bankgeschäftstagen. Weil er keinen Ausweis mithatte, zeigte Ralf seine BahnCard. Sein Name stand unter dem Foto, dass er ihnen nicht eine falsche Adresse weisgemacht hatte, müssten sie ihm dann wohl so glauben. Ihm kam ein Einfall.
Hier in seinem dick gefüllten, geldmäßig aber ziemlich leeren Beutel steckte auch noch jene pompöse Karte, die ihn als einen schwulen „Redakteur“ legitimierte, und die vollständige Adresse und Telefonnummer war abgedruckt darauf. Zwar hatte man ihn bei dem unbedeutenden Klatsch- und Tratsch-Blättchen von Mannheim achtkantig gefeuert, nachdem er die ganze Wahrheit über die Provinz-Subkultur in Reuenthal enthüllt hatte und prompt der „Tea Club“ mit ausdrücklichem schriftlichen Verweis auf Ralf seinen Anzeigenauftrag gekündigt hatte, aber, dämlich wie sie waren, keiner der „Kollegen“ war je auf die Idee gekommen, seinen Journalistenausweis einzuziehen.
Belesen, wie er wiederum war, entsann er sich plötzlich eines englischen humoristischen Romans, in dem es um die Identitätsfindung eines Mannes in der Midlifecrisis gegangen war, eines Wissenschaftlers, der auf Oahu an der Rezeption eines Luxushotels ein Gratisflugticket hatte aufblitzen lassen können, worauf das Personal auf die unzutreffende Idee verfallen war, er sei ein mächtiger Reisejournalist, und den Engländer hatten sie verwöhnt, so gut sie konnten, weil man nichts Nachteiliges in der Reisebeilage des „Guardians“ über ihr Hotel lesen sollte. Seine eigene Karte von dem Schwulenblättchen konnte Ralf jetzt vorlegen, angeblich, um seinen Wohnort zu beglaubigen, in Wahrheit, um als Angehöriger der vierten Gewalt, der schwulen Presse, Eindruck zu schinden. „Ach, vergiss es, du bist Gast in unserem Haus“, hörte er den Disco-Knecht schon schleimen. Aber nein! Das Leben kam nicht einmal auf die Idee, die Kunst zu imitieren. Es blieb dabei, in der nächsten Woche seien siebzehn Mark zu überweisen.
Und dabei schwante ihm in diesem Augenblick noch nicht einmal, dass das einfache, BahnCard-ermäßigte DB-Ticket nach Reuenthal von Freindersheim Hauptbahnhof aus stolze dreizehn Mark zwanzig kostete. Die Lights waren nun alle in Rauch aufgegangen, für eine neue Schachtel reichte es im neuen Tag nicht mehr hin. Zusammengefasst stellte sich heraus, dass eine Nacht des Abenteuers im Blue Bossa sich, Fahrkarten, Eintritt, nicht freie Getränke, Zigaretten ... auf weit über sechzig Mark läpperte. Das konnte Ralf sich ja nur leisten, wenn der Vater den siebzigsten Geburtstag feierte. Aber Samstag für Samstag stürzten sich Abertausende junger schwuler Männer in diese Fährnisse hinein und gewannen offenbar ihren Mehrwert daraus, der sich mit mindestens sechzig Mark ansetzen ließ, staunte er.
Er stapfte durch den langgezogenen Innenhof der einstigen Weberei. Hier und auch draußen, Kilometer weit ums Areal, so schien es, wenn man in tiefster Nacht eintraf, war Wagen an Wagen geparkt oder vielmehr geparkt gewesen, denn jetzt im bleichen Licht sah man nur wenige Autos noch stehen, dazwischen viel gelben Sand und Kies und etliche Pfützen. Wusch! Und wusch! Und wusch! Je länger er lief, desto mehr Fahrzeuge kamen vorbei an ihm. Zu Fuß ging hier nur einer. Das war Ralf. Im nächsten sitzt ein Reuenthaler, der mich kennt, oder sogar der kleine Geringelte, dachte er, und dann geht alles noch gut aus und ich werde mitgenommen.
Als Pfadfinder in den Gewölben des Blue Bossas hatte er zwar keine tadellose Figur gemacht, dennoch schlug er nun, nachdem er gesehen hatte, dass noch keine Straßenbahn ging, schließlich war Sonntag, aufs Geratewohl einen unbekannten Weg ein. Ganz in der Nähe, er hatte das vorher mal auf einer Landkarte gesehen, musste der Haltepunkt Steckenrain liegen. Dort würden alle Bummelzüge halten, war er sich sicher. Und selbst am Hauptbahnhof, wenn er dort hinginge, würden zu dieser frühen Stunde an einem Sonntagmorgen keinerlei Züge gehen, soweit es die nicht ganz unproblematische Zugverbindung ins Reuenthaler Gäu anlangte. Er hatte noch sehr, sehr viel Zeit.
In einem Glaskasten an der mehrspurigen Ausfallstraße hing ein Stadtplan, den Ralf noch einmal sorgfältig zu Rate zog, bevor er der Verkehrsschneise, von der er genau wusste, dass sie der geeignetste Weg in Richtung Hauptbahnhof gewesen wäre, den Rücken drehte und geschwind eintauchte in ein farbloses Wohngebiet für die niederen Stände, dessen Straßen die Namen von deutschen Dichterhelden wie Lessing, Grabbe oder von Platen trugen, Namen, bei denen er seinen Kopf darauf verwettet hätte, keiner der hier Untergebrachten hatte ihre Schriften auch nur angeblättert.
Nach den grauen Blöcken, die ein wenig wie aufgegebene Army-Unterkünfte ausgesehen hatten, kamen putzige kleine Häuschen aus den Fünfzigern und Sechzigern; mit irgendwie halbwegs integrer Arbeit hatte man in jenen Jahren noch mäßig reich werden können. Alles lag in tiefem Sonntagmorgenschlaf. Dann kam die Industrie, klar, Steckenrain war eigentlich keine Gemeinde, sondern ein gigantisches Fabrikgelände. Dann kamen unzählige Rangiergleise, nirgends fuhr ein Zug. Er bog einige Male ab, denn er ahnte, die Hauptstrecke lag eher dort hinten, irgendwo im Norden drüben. Aber immer machten die ausgestorbenen Straßen u-förmige Biegungen zurück. Es schien hier im Viertel überhaupt nur diese eine Durchfahrt zu geben, die irgendwo hinführte, wo er nicht hin sollte. Die Fabriken waren so leer wie alle Geldbörsen, die man in Papierkörben findet. Keine Menschenseele irgendwo.
Ralf merkte, dass er einen Fehler gemacht hatte. Nicht nach Steckenrain, einfach zum Hauptbahnhof hätte er gehen sollen, auch wenn das weiter war. Bald wäre auch die erste Tram gekommen, hätte aber gekostet. Kein Mensch ging diesen Weg. Alle waren die große Chaussee in die City gefahren. Allerdings kam es mittlerweile darauf nicht mehr an.
Hier war alles so still, der Himmel war zart und blau, kleine weiße Wolkenbäusche zitterten an durchscheinenden Fäden. Hinter ihm kam die Sonne über die Zäune, Rohre und Parkplätze herauf. Ralf warf Schatten wie ein Riese und alles sah erstaunlich kostbar aus an diesem frischen Morgen.
Von Ferne bewegte sich nun auch eine Figur auf ihn zu. Das war ein äußerst gemächlich tretender Radfahrer. Er trug einen dunklen Mantel und einen altertümlichen Hut mit Eichelhäherfeder und hatte in den Rahmen des Rades eine grüne Plastikgießkanne gezwängt. Ein alter Mann war es. Der Mann lächelte Ralf milde zu und rief kurz etwas Unverständliches, Ralf fühlte sich an seinen Vater erinnert, der auch einst einen Garten gehabt hatte, wo man gießen musste. Ralf blieb stehen und sah ihm nach. Der Mann mit dem Hut wendete sich im Weiterfahren noch einmal nach ihm um und fing an zu singen. „Alle Tage ist kein Sonntag“.
Viel war das nicht, aber es hatte was.