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es etwas legerer zugehen. Einen Sitzplatz würde er finden und Ausschau halten nach einem, dessen Nähe ihm Trost schenken könnte. Im Café saßen dann Mike und Frank. Mike war während zehn Jahren Knuts ständiger Begleiter gewesen. Rein platonisch. Mike war korpulent, kahlköpfig und trug einen schwarzen Schnauzbart. Also trug er selbstverständlich von oben bis unten auch schwarzes Leder. Genetisch schien das miteinander verkoppelt. Knut und Mike wichen sich in letzter Zeit geschickt aus, grüßten auch nicht mehr, wenn sie sich doch mal über den Weg liefen, denn nach wie vor kam Knut ja noch sehr oft in die Reuenthaler Szene. Etwas musste gewesen sein, aber was, verrieten sie beide nicht. Auch jetzt erfuhr Ralf wieder nichts Neues von dem Streit. Mike dagegen, der ihn unauffällig, das dachte er wohl, aushorchte, hörte allerhand Tratsch über Knut von Ralf. Danach ging der Gesprächsstoff schnell aus. Frank und ein Benno, den Ralf aber nicht kannte, hatten ihrem Gespräch zugesehen, natürlich keinen Ton mitbekommen, dafür bollerte der Boxenschall von der Tanzfläche viel zu massiv gegen die Scheibe des Cafés.
Benno, von der Sorte, die durchaus Wert darauf legt, Fremden gegenüber heterosexuell zu erscheinen, mit schrillem, singenden Tonfall sich als Tunte sogleich aber wieder entlarvt, fragte, wie Ralf den Abend finde. „Ganz gut. Ich meine, wenn man sich keine Hoffnungen macht.“ Tröstend legte Benno ihm einen Arm um die Schulter. „Hier oben passiert nie etwas. Wenn du was erleben willst, musst du runter in die Dunkelkammer. Da geht dann die Post ab.“ Stumm verzog Ralf seinen Mund. Er hatte keine Lust, aus zehn Zentimetern Abstand Erklärungen in Bennos Ohr zu blöken, während Frank und Mike sich wohl fragen würden, was die beiden, bislang ganz Fremden, sich traut zu flüstern hatten. „Bis später.“ Ralf wedelte die Hand lasch vom Gelenk herauf, lächelte beim Aufstehen jedem freundlich noch mal zu.
Rings um die Tanzfläche lagerte mittlerweile ein wahres Heer. Viele tanzten und noch viel, viel mehr beguckten diese Mutigen, die sich anscheinend gern so begucken ließen. Gemächlich und gefestigt trieb Ralf durch die Masse. Man wich scheu zurück, sobald er auf jemanden zuging. Wer den ums Parkett Stehenden sich näherte, wurde als Irritation knapp registriert, man wischte wie mechanisch ein wenig auf die Seite, bis die Störung passiert hatte. Uns Schwulen kann man, dachte Ralf, allerlei nachsagen, aber, selbst wenn wir besoffen sind, rempeln wir nicht, wir machen mit Anstand Platz, wenn einer durch will. Vielleicht entsprang diese Zuvorkommenheit aber der Angst um ihre weißen Sneakers, die viele hier trugen.
Ralf steuerte auf den zweiten Rang der getreppten Tribüne zu. Das waren seitliche Plätze, die das Gewiege der Tanzenden deutlich überragten. Er sah fast nichts mehr. Nebel hing viel zu dicht, eine Düse blies furzend immer noch mehr herein. Bei seinem Anflug hatte er keinem der Burschen ins Gesicht geschaut. Bevor er es nachholen konnte mit verstohlenen Seitenblicken, waren ihm seine beiden Nebenmänner bereits beide entwischt. Erst tat sich links, dann rechts neben ihm sofort auch eine gähnende Lücke auf.
Ach, zum Teufel! Wie ging das überhaupt, jemanden kennen lernen im Blue Bossa? Immer hatte er geglaubt, Kennenlernen müsse über sich neben wen Stellen laufen, nicht weg Gehen, den und keinen andren Anschauen. Doch bei Ralf lief das nicht. Was ja aber nicht normal sein konnte. Einen der Fremden anzusprechen, hatte er nie gewagt, und war auch niemals angesprochen worden. Ausgenommen das eine Mal, als er morgens alleine beim Ausgang gesessen und auf Knut gewartet hatte. Ein Lumpensammler war das gewesen, der reihum alle, die übrig und einsam geblieben waren, forsch anmachte, der ihm zugelächelt hatte und dem Ralf schnell einen Korb gegeben hatte. „Guck halt nicht so traurig“, hatte lächelnd der Lumpensammler empfohlen und auch Ralf hatte gelächelt, unwillkürlich. „Siehst du, so siehst du viel besser aus“, hatte der Lumpensammler gesagt.
Zuletzt, vor zwei Jahren, war er mit Knuts damaliger Clique im Blue Bossa gewesen. Lukas hatte seinerzeit noch dazu gehört, ein Achtzehnjähriger und damals Knuts Flamme. Wie üblich hatte sich die Clique nach kurzer Zeit aufgelöst. Jeder war seiner Wege gegangen im Gewirr der Stiegen, Gänge und Floors. Am Ende der Nacht waren weiterhin alle solo gewesen, außer Knut, der den süßen Lukas-Knaben kutschieren konnte. Lukas hatte viel geklagt. Keine zehn Schritte könne er tun, nirgends dürfe er stehen bleiben, abschalten und ein Sektchen nuckeln, immer seien so Typen dort, die sagen müssten, wie gut der Lukas aussehe, und fragen, wo er herkomme und was er noch vorhabe. Man war so alt, wie man sich fühlte, und Ralf fühlte sich nicht wie ein Greis, aber dem Selbstbewusstsein waren Besuche im Blue Bossa nie zuträglich gewesen.
Also gut, Reißaus vor ihm wurde genommen. Wenn er sich nichtsahnend neben wen stellte, schwante diesem Jemand, er könnte demnächst in die Zange genommen werden, keiner schien sich das zu wünschen. Es lief also wohl doch so, wie er es sich ausgemalt hatte. Man lernte Leute kennen, indem man sie sich auswählte, vom Spreu den Weizen trennend, sich neben sie stellte und wartete, ob man das denn durfte. Wahrscheinlich waren die Chancen, ein Gespräch anzuknüpfen, nicht übel, wenn fünf Minuten danach irgendjemand es bei einem noch aushielt. Ralf wurde ruhiger. Er musste sich keinen Kopf machen. Längst hatte er definiert, dass heute nichts geschehen würde. Schließlich war er nicht in der Stimmung, jemanden aufzugabeln. Ein oder zwei Niedliche standen schon noch jenseits des Grabens. Aber streng genommen ließen auch diese fast kalt. Er hätte sich fallen lassen können, schnell entschlossen unter die Tänzer hüpfen, mit geschlossenen Augen alles Hindernde von sich schütteln. Schütteln, Hopsen und Fallenlassen mussten hierfür bildhaft aufgefasst werden. In Wirklichkeit ging es ja viel enger zu. Hackedicht war die Tanzfläche mittlerweile.
Ralf zog um, einen Floor weiter, zu „Drums and Space“. In den Jahren seit seinem Coming-out, damals hatte er sich eingehend mit modernster Popmusik befasst, waren die Mode- und Musiktrends mehrfach gekommen und dann wieder gegangen. Das Meiste hatte er kaum mitbekommen. Dennoch überkam ihn ungefähr alle vier Jahre der Wunsch, selber noch einmal Platten zu hören, die neu waren, die Leute mitreißen konnten, welche ebenfalls neu waren. Dann holte er sich das