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Die Quote würde für ihn bei Null bleiben. Dies wäre dann das.
Wegen den Lottozahlen kamen sie in Freindersheim nach zweiundzwanzig Uhr an. In den vergangenen zwei Jahren seien die Formalien verändert worden, setzte Knut ihn rasch ins Bild. Vor zehn sei es nämlich jetzt billiger geworden, zur jetzigen Stunde aber belaufe der Eintritt sich neuerdings auf zwanzig Mark. Dafür gab man jedem einen Streifen festes Papier, auf dem eine Liste der Getränke mit Preisen war. Für jedes Getränk gebe es immer einen Strich. Das erste sei jedoch ausgenommen, ein Willkommensgeschenk, nur die die danach würden zählen, beziehungsweise mit den zwanzig Mark vom Eintritt aufgerechnet werden. Wer dann aber mehr trinke als zwanzig Mark, müsse nachzahlen am Ausgang.
„Pass auf deine Karte auf! Wenn du die verlierst, ich weiß ja nicht, ob du in den Dunkelraum willst, dann knöpfen sie dir hundert Mark ab“, warnte Knut.
Zwei tiefrote Fruchtdrops aus einem bereitgestellten Korb klaubte Ralf im Vorübergehen und stürzte sich in die Nacht, Knut hinter sich lassend. Ihn würde man oft genug noch sehen.
Der alten Gewohnheit folgend ließ er es an der langen Theke im ersten Stock mit einem Weizenbier als Welcome Drink langsam angehen. Stilwille offenbarte er keinen, genoss die mittels Verzicht auf Abschleppquote errungene Freiheit, tun zu dürfen, wonach er lustig war. Weizen wurde in Halbliterportionen verteilt. Das lohnte sich. Er drehte sich zur Tanzfläche. Die war immer noch abgesperrt. Das Discovölkchen stand schon sehr harrend.
Oft hatte Ralf sich gewundert, wie viele Tucken sich einstellten, Samstag um Samstag. Wohl ein halbes Dorf, tausend, zweitausend Leute, schätzte er. Dass dies eine Welt ohne Frauen war, fiel ihm nicht weiter auf, die Quarktaschen gab es nicht, weil man die nicht reinließ am Samstag. Er fragte sich auch nicht mehr, warum immerfort verbreitet wurde, alle Sorten Männer wären im Blue Bossa vertreten, während die Alterspyramide in Wahrheit knapp unter achtzehn ansetzte, in den Zwanzigern eine sehr pralle Beule aufwies, um bei den Dreißigern schon zügig ihrer Spitze zuzustreben, die mit Ende vierzig erreicht zu werden schien.
Sein Weizen vor sich tragend bahnte er sich den Weg, Räume suchend, von denen er raunen gehört hatte, die er teilweise aber noch nie in Augenschein genommen hatte. Vorne links war das sogenannte Café, ein mit Sperrholz und Fensterglas abgetrennter Bereich, wo man Kleinigkeiten essen konnte. Jenseits der Tanzfläche treppten für Augenmenschen sich die Tribünenplätze. Es folgte die Sektbar, während auf Ralfs Seite nach der Theke eine Lederbar sich anschloss. Wirklich hell war es nirgendwo. Ralf tappte durch die Menge, die Vielen verschwammen ihm zu nichts, er schrumpfte auf Zwergenmaß.
Links neben dem Café ging es nach hinten zur Damentoilette. Die Herrentoilette lag im Erdgeschoss drunten und wurde durch eine Extra-Treppe hinter der Sektbar erschlossen. Bislang war Ralf immer auf der Damentoilette gewesen. Gewarnt hatte man ihn vor der Männerklappe, offenes Fick-Territorium sei dort. Kaffee und Weizen machten sich bemerkbar, Ralf musste. Obwohl es zur Damentoilette näher war, entschied er sich heute mal für „Herren“.
Aber dort drunten stand nicht einer von den schwer schleifenden Ledertypen, auf die er gefasst war. Zweifellos verlangte der Verkehr auf Klappen Nonchalance hinsichtlich einer zarten Kinderstube. Hartnäckige Späher bei Ausscheidungsvorgängen zu tolerieren, würde man dort nicht umhin können. Im Gegenzug würde man selbst sich die Freiheit rausnehmen, auf das Membrum des Nachbarn fordernd und mit Bedacht zu plieren. Ralf hatte sich mit dieser Art des Bekanntschaftenschließens nie anfreunden können. Er beeilte sich, fertig zu werden. Und doch kam er sich auf eine Art betrogen vor. Wenn er schon mal in den Abgrund gestiegen war! Während er sich die seine Hände wusch, traten zwei oder drei hinzu. Soweit er das im Fortgehen beurteilen konnte, aber aus gänzlich profanen Gründen.
Oberhalb der Treppe gab es mittlerweile einen Durchgang, wo er sich nur einer Wand entsinnen konnte. Farbige Leuchtröhren-Buchstaben kündeten „Drums and Space“. Drinnen sah es aus wie in Reuenthal, wenn Sperrmüll war. Holzpaletten waren gestapelt, durchgesessene Sofas und Sessel standen und lagen umher. Anschließend kam dann wieder eine Treppe zum Erdgeschoss hinab. Schwarz gestrichene Gänge, in denen fetter Nebel stand. Wummernde Bässe wiesen ihm seinen Weg.
Diese Disco da unten war ein Provisorium, der von einer riesigen, vollkommen leeren Fertigungshalle behelfsmäßig abgetrennte Bereich. An sich sehr finster, aber von Blitzen durchzuckt. Schlankweg entzückende Schlackse zickten zwischen den Lichtzacken, als gedächten sie innert Stunden ihr Terrestrisches zu übersteigen. Ralf fand, wer die Mitte seiner Dreißiger bereits erreicht hatte, musste nicht wissen, welches Subgenre der Rockmusik hier gehypet wurde. Ralf musste, was gespielt wurde, auch nicht für Musik, im engeren Sinn, halten. Eminent lauter, Nerven zehrender Krach, das schien den Grad akustischer Eindringlichkeit objektiv zu benennen.
Er kam zum Einlass in noch einen dunklen Gang, dick mit Schwaden verquollen. Am Boden markierten Teelichter den Pfad. Die Decke wurde niedriger, schon ging er gebückt, die Flämmchen hörten auf. Ralf hielt an. Ein Unbekannter war ihm hinterher, dicht stand er hinter ihm. Als Ralf merkte, dass vorne sich was rührte, machte er das Feuerzeug an und drang nach vorn. Wie ein Höhlenforscher kam er sich vor, wie damals als Knabe, als sein Vater, sein Bruder und er eine Höhle im Kalkgebiet erforscht hatten.
Ihr Forscherteam, obwohl Ralf den Gedanken an ein „Team“ gleich wieder fahren ließ, er lachte ja und redete im Flackernden zwei Menschen an, keiner kümmerte sich darum oder sagte irgendwas, dieses Nicht-Team stieß vor ins Herz der Dunkelheit. Bei kleinem Flämmchen standen sie wartend. Klapprige Gartenstühle, sonst war hier nichts. Ralf fiel ein, was Mimmo ihm gesteckt hatte. Den dunklen Gang oder Tunnel, wie Mimmo sagte, müsste er suchen. Willige Knaben würden sich drunten, enthemmt, dem harten Kerle willig unterwerfen. Wie es oft so ging, wo der Bär angeblich röhrte, war vorübergehend kurz mal nix los, wenn Ralf hinkam. Ein paar Twens um einige Gartenstühle herum. Sie hielten ihre Feuerzeugflämmchen und guckten gespannt. Ralf machte Kehrt. Andere Forscher kamen vom Licht entgegen. Er sagte nichts zu denen. Die Spannung wollte er ihnen einstweilen noch lassen.
Der eigentliche Dunkelraum im Blue Bossa war dieser sich verengende Gang ja nicht, auch Ralf wusste es. Noch ein Stockwerk weiter unten gab es den Lederkeller, das sogenannte