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gleich weiter. Spürte dann allerdings, dass mit dem Jungen auf dem Sofa was gewesen sein musste. Er zwang sich, nicht sofort hinzustarren, ob der Junge auch immer noch zu ihm her guckte. Er hatte geschaut mit etwas wie Anteilnahme und sich keinerlei Mühe gegeben, dieses Interesse zu kaschieren, aber durchaus registriert, dass Ralf kapiert hatte, dass sich einer Gedanken machte über ihn. Das war gewesen. Noch einmal schob Ralf den Moment hinaus mit aller Kraft. Dann: Der Bursche saß drüben und guckte noch immer. Etwas bewegend Ernsthaftes lag in seinen Augen, die weder traurig oder verlangend, aber auch nicht verächtlich und gewiss nicht feindlich waren. Ralf verstand es nicht.
Es war kurz vor drei Uhr nachts. Knut musste sich auf die Suche gemacht haben nach ihm, weil er demnächst nach Kaiserslautern aufbrechen musste. Knut war freilich Knut, wenn der wo hin musste, dann wollte der da nicht hin, dann hatte der das Gefühl, gerade dann, wenn er gegangen wäre, käme der beste Teil. Ralf sah Knut das Weizen in unüblich kleinen Schlückchen mümmeln. Er folge Knuts Blick, der hing bei zwei Jungen, die miteinander tanzten. Beider pechschwarz gefärbtes Haar war zu steilen Dornen verklebt, die, in ihrer Reihung, gigantische Hahnenkämme darstellten, deren Spitzen in einem rot-gelbem Stieben explodierten. „Mein Gott“, Ralf konnte ihn murmeln hören, „die haben keine Ahnung, wie schön sie sind.“ Mit anderen Worten, Knut hatte seinen Moralischen. Der würde so spät fahren, wie es nur ginge, vielleicht zu spät. Eine kleine Cola konnte Ralf sich holen, bevor er sich um Knut noch mal kümmerte.
Auf der Treppe nach oben zur langen Theke stand dieser eine pummelige Blonde immer noch. Immer noch? Also hatte Ralf sich vorher beim Runtergehen den Blonden auf der Treppe gemerkt, seltsam. Besonders schön war der Blonde nicht, außerdem blond, aber er hielt Ralfs Blick Stand, antwortete mit einladendem Glanz. Im Grunde hatte das ja gar nichts zu besagen, wie oft lächeln sich Leute an, die einander den Vortritt lassen auf einem engen Weg. Aber hier, im Blue Bossa, am Samstag, unter all den Schönen, die Ralf nicht sahen, war ein freundlicher Blick fast etwas Einzigartiges. Auf jeden Fall zunicken würde er dem Blonden, wenn er mit der Cola zurückkäme, dachte er. Ansprechen wohl kaum, war nicht sein Typ. An der langen Theke war Stau. Bis er das Glas hatte, bis der Streifen seinen Strich hatte, bis er zur Treppe sich durchgekämpft hatte, war das Blondpummelchen nicht mehr da.
Knut stand immer noch an der Box, sein Weizen war leer. Die zwei Flammenköpfchen waren weiter vergnügt. Der Zurückhaltende auf dem Sofa? Oh ja, der war da. Der sah schon wieder kurz zu ihm her, etwas gleichgültig jetzt oder einfach nur schräg hinter Ralf, wo ein Interessanterer erschienen sein konnte. Umdrehen ging nicht. Ralf stellte sich neben Knut und schüttete die kleine Cola in einem Zug hinab. „Dein wie vieltes Getränk war das?“, grunzte Knut feucht ihm in die Ohrmuschel. „Ein Weizen zur Begrüßung. Dann noch eins. Jetzt die Cola.“ „Dann kannst du dir noch eins holen für die zwanzig Mark“, sagte Knut, „ich geh dann jetzt. Hast du die Zwei mit den gestupften Haaren gesehen? Spinnige Aufmachung, aber steht ihnen.“
Auf dem Floor schoben zwei fassstarke Fleischbatzen sich quer durch die Tanzenden, rappelten sich auf das bis jetzt leere Podest in der Mitte und begannen, während sie hohlköpfige Freudegrimassen zur Schau trugen und Lambada-mäßig die Ärsche schunkelten, sich die Kleider abzureißen. T-Shirts, Jeans und Slippers lagen verstreut um sie auf dem ansonsten weiterhin leer verbleibenden Podium. Ihre String-Tanga-Schnüre luden den Betrachter ein, Blicke zu tun bis tief hinein in die nahtlos braunen Dampfnudel-Hinterbacken. Es schien dies eine soziologisch erhärtete Tatsache, dass die tatsächlich Schönen allenfalls im Fernsehen oder im Film sich zu derart schamfreier Marktbeschau herabließen, während es die widerlichsten Schattenwirtschaftsexistenzen in deren Vertretung im normalen Leben mit viel Spaß, Reu- und Schamlosigkeit unablässig taten.
Seitab von Knut erkannte Ralf René, einen Chemiearbeiter aus Reuenthal. René und Knut übersahen sich in der Reuenthaler Szene seit ungezählten Jahren mit Absicht. Überhaupt hatte Knut mittlerweile viel mehr Feinde als Freunde in Reuenthal, was er sich zur besonderen Ehre anrechnete. Knut beugte sich an Ralfs Ohr. „Der hat bestimmt auch schon graue Haare.“ René trug eine nicht mehr ganz aktuelle Föhnfrisur von der Sorte „Münchner Freiheit“, allerdings schwarz wie die Hölle und matt schimmernd und jugendlich gleißend. „Du hast deine grauen Haare also auch“, grinste Ralf, „ich krieg jetzt auch. Man denkt das vorher nicht, gell?“ „Graue Haare hab ich nur an der Brust, einige wenige. Aber ich hab sowieso fast keine Haare auf der Brust“, schrie Knut. Der Junge drüben auf dem Sofa ruhte verträumt oder gelangweilt, hatte aber mindestens, seitdem Ralf mit Knut zu sprechen angefangen hatte, kein einziges Mal hergeschaut.
Knut behauptete, sie hätten noch etwas Wichtiges zu besprechen. Es sollte wohl um die Heimfahrt gehen. Knut wollte sich wohl verabschieden. Ralf kannte das. Knuts bedachtsames Runterzählen an den Fingern einer Hand, welche Gründe für das Pro und welche für das Kontra einer anstehenden Schicksalswahl sprachen. Knuts angestrengtes Starren ins Weite, wenn er nicht mehr ein noch aus wusste. Knuts Flehen um Hilfe, man auch mal was sagen. Dann Knut, der einem nicht zuhörte, vielmehr innerlich die gleichen Finger weiter abzählte, sehr lange gar nichts tat, mit einem gordischen Hieb durch die Mitte brauste, meist das Blödeste tat, was man sich hätte vorstellen können. Sie müssten also etwas besprechen. Klar. Und es ging nur draußen im Gang, hier drinnen konnte man sich nämlich nur schreiend verständigen. Draußen im Gang konnte man das Sofa nicht im Blick halten.
Er müsse jetzt schleunigst weg, sagte Knut, in wenigen Stunden fange die Streifengeherei an. Jetzt ein Angebot, Ralf könne einfach doch einmal mitkommen, einfach mitgehen mal, sich das einfach anschauen nur mal, Leute brauchen würden sie da immer, Ralf sei doch jetzt auch schon viel zu lange arbeitslos, bei der Arbeitslosenhilfe sei der längst angekommen. Nein, heißen müsse das ja nun auch gar nichts, nur mal zugucken solle der Ralf doch, wenn aber Security halt ihm nicht liege, dann müsse er das ja auch