Lebenskünstler U: Aufgehende Lichter - Page 3

Bild von Klaus Mattes
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„County Jail“, mit einer langen Theke, an der sich reichlich erwachsene Männer in Flanellhemden und Lederhosen zu versammeln pflegten. Direkt neben dem Jail lag dann der eigentliche Dunkelraum. Die Zeit schien zu stehen. Dieselben schnauzbärtigen Kerle lehnten am Tresen lässig und süffelten kennerhaft Pils, derselbe Techno dröhnte, sogar der Typ, dem auf dem Videoschirm währenddessen einer geblasen wurde, schien sein übergroßes Rohr nonstop seit vielen Jahren schon hinzuhalten, so gleichmütig nahm er die geschenkten Zärtlichkeiten entgegen, beziehungsweise ließ ein paar fingierte Lustkiekser fliegen, denen man aber den Saft abgedreht hatte. Ralf, der Pornografie noch jedes Mal leicht behämmert gefunden hatte, wenn er ihr begegnet war, ging stracks weiter, hinüber zu der dunklen Kammer.

Stahlstäbe fassten martialisch die schattige Wartezone vor der völligen Finsternis ein. Er lehnte sich gegen zwei dieser Stäbe. Zwei junge Männer standen dicht bei, sie sahen sich um, als bräuchten sie einen dritten Mann. Oder bildete Ralf sich das ein? Egal, er wollte nichts, das hatte er sich klar vorgenommen. Ihm gegenüber, am hinteren Ende des Vorraumes lief ein Sims die Wand entlang. Darauf sitzend sah noch einer zu ihm her. Die Entfernung war zu groß, die Beleuchtung zu schlecht um festzustellen, wie er aussah, ob seine Miene Spuren von Sympathie ausstrahlte. Möglich, dass der sich mehr dafür interessierte, wer gerade vom „County Jail“ hereinkam. Weil er dieses Gesicht nicht deutlich ausmachen konnte und allenfalls eine vage Idee gewann, fühlte Ralf Spannung und Vorfreude plötzlich in sich rasen.

Auch vor zwei Jahren hatte er hier gestanden und sich einen ausgeguckt. Schwören hätte er können, dass in den Hintergedanken des anderen er, zumindest unter anderem auch, vorgekommen war. Dessen Augen hatten so lange, bis er in den Dark Room rein verschwunden war, sengend an Ralf gehangen. Lang hatte Ralf da nicht gewartet. Doch als er ins Dunkel getreten war, war’s darin schwarz wie die Nacht, übervoll, stickig und heiß. An seiner Hose hatten, vorn und hinten schon auch, Hände genestelt. Die erhofften Hände schienen nicht dabei zu sein. Ralf war raus ins Helle gestürzt. Als er Mimmo, jenem Italiener, der ihm in Reuenthal vom Flämmchentunnel und den enthemmten Knaben vorgeschwärmt hatte, dies erzählte, meinte Mimmo, Ralf wäre besser drin geblieben. Mit wem man’s treibe, sei am Ende schlicht egal, wenn es nur kein Alter wäre, was man leicht feststellen könne, da bei sämtlichen übervierzigjährigen Männern die Arschbacken sich wabbelig anfühlten, wie jugendstraff sie bei Licht auch scheinen möchten.

Ralf stieg jetzt eine Treppe hinauf und kam vorn bei der Kasse wieder heraus. Obwohl Garderobe und Kasse sowie die Neuankömmlinge kaum freien Raum ließen, schien exakt hier der Korso des ganzen schwulen Dörfchens zu liegen. Überall standen, saßen und lungerten Grüppchen oder Einzelne. Schwer auszumachen, ob es sich um Neuangekommene oder lang Harrende handelte oder um Pingelige, die das Licht zur präzisen Klassifizierung der Beute zu nutzen wussten.

Sich durchs blockierende Gemenge schmeichelnd, erreichte er ein Ende des Korsos, bog rechts um eine Ecke und stand plötzlich unter offenem Himmel. Einen Lichthof gab es, in einem amateurhaft getürkten Garten dümpelte hier etwas graues Grün. Ums Karree rasteten palavernde Männer auf Begrenzungssteinen, Sekt- und Bierkelche in der Hand. Mit einer Marlboro arbeitete Ralf an gegen den unheimlichen Luftüberfall. Knut fiel ihm ein, bei den Spielautomaten hatte er ihn zuletzt gesehen, wie lange war das wohl her? Er müsste sich dort mal blicken lassen, theoretisch war das ihrer beider gemeinsamer Abend im Blue Bossa. Er ging ins Haus und ein Stockwerk höher und merkte, dass es neben der Treppe sogar noch eine dritte Disco gab, die er wohl immer übersehen hatte, in all den Jahren, in denen er hier einst verkehrt hatte. Die Überraschungen schienen noch lange kein Ende zu nehmen. Später würde er sich darum auch noch kümmern.

Knut flipperte in einer Tour. Flippern war wahrscheinlich nicht das korrekte Wort. In einem Flipper fielen wohl eher Kugeln und Knut stand vor einem Automaten, wo sich Scheibchen drehten. Nacheinander blieben sie stehen. Wenn drei gleiche kamen, dreimal Ananas zum Beispiel, hatte Knut sein Freispiel erobert. Nach allem, was Ralf selbst mitangesehen und auch von Mike erfahren hatte, konnte Knut mit diesen Spielautomaten Nächte zubringen. Der gleiche Knut, der einen gewissen Gerd einst verlacht hatte, weil Gerd jeden einzelnen Samstag ins Blue Bossa reiste, ganz einsam und wie festgewurzelt dort aber dann nur stand und nichts tat außer Glotzen, Trinken und Warten. Immer nur warten. „Der Platz ist gut“, hatte Gerd seinerzeit erklärt. „Du siehst die Schönsten und kannst sie dir merken fürs Wichsen.“

Knut dagegen schenkte der Umwelt keine Beachtung. Mit dem Rücken zum Gang drückte er auf Knöpfe. Das rote Sweatshirt hatte er um die Hüfte gebunden und stand im gerippten Unterhemd. Während Ralf hinsah und inhaltsleere Sätze fallen ließ, auf die Knut nicht achtete, blieb einer, der nach Anfang dreißig aussah, stehen, den Blick von Knut nicht lassend. Auch dieser Starrer trug ein weißes Unterhemd. Knut schien ihn nicht zu sehen. Nach einer halben Minute ging der Unbekannte schließlich weiter und verschwand. Ralf berichtete, was geschehen war. „Die Dreißigjährigen können ruhig wegbleiben, Achtzehnjährige will ich haben“, schnaubte Knut. Ralf zündete sich eine Zigarette an.

Solchen Nächten im Blue Bossa fieberte man oft entgegen, fand sie dann aber öde, wenn man erst mal dort war. Mit zwanzig hätte Ralf sich nicht eine Sekunde ausmalen können, dass er mit fünfunddreißig neben einem vergrätzten Zocker stehen würde, der von einer Plättchen kreiselnden Maschinerie nicht weg zu bekommen war, verlassen von allen guten Geistern und zweitausend mehr oder weniger Zwanzigjährigen.

Da kam aber schon wieder einer an, ein kleiner Drahtiger mit dunklen Haaren und überaus scharfer Nase. Ralf schätzte ihn auf Griechen. Für Knut hatte dieser Grieche nichts übrig, ließ dagegen Ralf nicht mehr aus dem Blick. Ganz dicht schob er sich heran an Ralf und starrte nahezu fordernd. Mann, geht der aber ran, dachte Ralf. Nun ja, dieser Grieche war nicht ganz übel, ein wenig herb vielleicht. Er sagte etwas, Ralf verstand es nicht und lächelte verlegen. „Spielen“ schnappte er auf. Ralf sollte endlich den zweiten Spielautomaten freigeben. Weiter, dachte er, es muss sich noch was ändern.

Im Café drüben würde

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