Lebenskünstler U: Aufgehende Lichter - Page 6

Bild von Klaus Mattes
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den Verdauungskanal des verehrten Schatzes hinein praktizierte. Ganz kolossal schien das zu sein, zumindest für diese Leute.

Vor langer Zeit einmal hatte Ralf im Bett gelegen, mit einem anderen, ebenfalls sehr jungen Manne. Und sie damals waren es dann gewesen, die diese Technik erfunden, entwickelt und serienreif gemacht hatten. Offensive Zurschaustellungen hatte er seither abgeschmackt gefunden. Jetzt aber, und Ralf begann, sich darüber zu verwundern, war ein Tag der Versöhnlichkeit gekommen. Ralf sah ein, doch, das müsste ein liebreizendes Gefühl sein, durch den Stoff zweier Jeans den Unaussprechlichen des Geliebten am wonnevollen Arsche sich zu wähnen.

Er ging in den Garten und sah Frank da einsam brüten. Frank, der immer schon zehn Jahre älter als Ralf gewirkt hatte, in Wahrheit sogar vier Jahre jünger war, war vor einem halben Jahr von einen Schlaganfall aus seiner auslaufenden Jugend gerissen worden und plagte sich mit den Folgen. Manche Wörter brachte Frank nur unter großen Mühen heraus, manchmal fielen sie ihm gar nicht ein. Oft musste Ralf erraten, was er sagen wollte. Was gesagt werden sollte, konnte Ralf sich zwar recht flugs zusammenreimen, aber Frank kam über solche Ausfälle so schnell nicht mehr hinweg, ließ Sätze fahren für Minuten und grübelte verbissen über einzelne Wörter. Sofort fing Ralf an zu soufflieren, aber das schien Frank zu billig, er gab nie Acht, er wollte es selber können, und wenn er endlich, endlich dieses eine verdammte Wort gefunden hatte, dann wusste er nicht mehr, für welchen Satz er es gesucht hatte.

Dabei sah er Ralf unsicher an. So hatte dieser Frank, der aber mit Mike zusammen war, immer geguckt, seit sie sich das erste Mal begegnet waren, damals konnte er tadellos artikulieren, wenn auch schleppend wie ein Grenzdepp. Immer hatte das ausgesehen, als wollte Frank, der doch vergeben war an Mike, von Ralf gar zu gerne angebaggert werden. Deshalb sah Ralf, noch mal eine Lights rauchend, auch dieses Mal wieder von Franks Blick nur noch weg und konzentrierte sich auf andere Leute, die vorbeigingen. Mit der Schuhspitze berührte er etwas, es war der abgebrochene Stiel eines Sektglases. Mehrfach mischte sich gläsernes Klirren unter Franks Gestammel. Ob Frank überhaupt froh war, ihn zu sehen, mit ihm sprechen zu müssen, ob Sprechen ihn auf Dauer nicht auch sehr anstrengte? „Ein frisches Weizen, danach verlangt der Körper jetzt“, sagte Ralf und hatte die mulmige Situation einigermaßen wieder im Griff.

Knut, hatte es Zweifel je geben können?, stand eisern fest an seinem Spielgerät. Kleine Schlucke nehmend, schaute Ralf ihm eine Zeitlang über die Achsel. Dann lächelte er und ging weiter. Es passierte aber für längere Zeit nun überhaupt nichts mehr. Er ging überall noch einmal vorbei, wo er vorher schon gewesen war, überall hatten vermutlich, so sehr viele Gesichter konnte man sich bei dieser Masse unmöglich merken, die einzelnen Darsteller gewechselt, der übergeordnete Ablauf wiederholte sich dessen ungeachtet mehr als eine Stunde etwas zäh. Er war auf der Kreuzfahrt durch drei Etagen, er rauchte Fluppen und trank ein Weizenbier. Nirgendwo hielt er sich auf. Ob er lieber hier oder ganz weit weg von hier gewesen wäre, was spielte das für eine Rolle.

Das Bier trieb ihn aufs Klo zurück. Wieder wählte er die Klappe für die richtigen Männer. Während er hinabstieg, fielen ihm seltsame Storys wieder ein. Zu später Stunde, hatte es geheißen, würden hier auf der Klappe wie Bettler Elendige neben den Pinkelschüsseln auf ihren Knien rutschen und um milde Gaben flehen. Regelrecht einen Skandal hatte Ralf diese Obszönitäten einst gefunden, aber nun, den abschüssigen, schleimigen Pfad zum schmutzigen Alten musste er eingeschlagen haben, ohne es recht zu merken, war er auf derlei Vorfälle schon auch mal selbst gespannt, wenn auch nicht gewillt, darin aktiv eine Rolle zu spielen. Doch nichts begab sich. An der Rückwand lehnte eine Handvoll Gaffer, während an den Becken der eine oder andere wahrscheinlich masturbierte oder zumindest sehr ausführlich und mit verdrucksten kleinen Mucksern zu tun hatte.

Bedeutend wohler fühlte er sich danach in der Disco im Erdgeschoss neben dem Tor zum Grünpark. Dort liefen unterdessen „I Am What I Am“, „Don’t Leave Me This Way“ und „We Are Family”, soulige Hymnen aus den Achtzigern, die einem heutzutage vorkamen, als hätte man sie mit der Muttermilch eingesogen. Seine Hemmungen waren wie fortgeblasen. Bei solcher Musik konnte kein Mensch lange still stehen. Und auf der Tanzfläche machte sich auch längst schon einer zum Narren, der nicht er war, der unverkennbar älter war als er und fetter und auch zwei Beine von unterschiedlicher Länge zu besitzen schien, was dem aber nicht die Spur ausmachte. „We are family“, grölte Ralf sich aufrüttelnd, grell, wie er nur konnte, schließlich hörte hier kein Mensch seine falschen Töne, der Sound war zu laut aufgedreht. Von den gefeierten Schwestern aus dem Orden der perpetuellen Sledges, Gaynors, Almonds, Somervilles, Summers und Weather Girls hatte er bis jetzt zwar keine im Blue Bossa erspäht, fühlte sich viel eher als Einzelkind oder aber Stiefkind in einer väterlich ihm auferlegten schrecklich netten Familie, aber so eine Laune war nun mal unwiderstehlich. Anfang der Achtziger hatte jemand auf einen Knopf gedrückt. Es funktionierte noch immer. „Stand up everybody and see!“, jauchzte er.

Salziger Schweiß brannte in den Augen. Aber auch nach dem dritten Stück, und immerhin waren das die Maxi-Versionen, war er noch bei Puste, obwohl er kein Bodybuilding gemacht und seinen Körper in jeder Hinsicht nur geschädigt und vernachlässigt hatte. Freudig streckte er sich, keck suchte er jegliches Auge, dem er freudig Paroli bieten könnte. Das erste Paar Augen, das schläfrig, skeptisch und mokant auf ihn gerichtet war, es gehörte leider Knut, der das rote Sweatshirt jetzt wieder auf dem knolligen Leib hatte. Knut lehnte an einer der schweren Lautsprecherboxen, ein Weizen stand auf der Box. „Nichts gegen diesen Tanzstil von dir“, hatte Knut, den Ralf noch nie tanzen gesehen hatte, vor zwei Jahren fallen lassen, „aber du tanzt wie eine Frau.“

Ralf riss den Blick ab von Knut und sah ein Ledersofa, auf dem ein einzelner, schmächtiger Bursche saß. Der Knabe hatte nichts weiter an sich, dass man sich ihn hätte einprägen müssen. Ihre Blicke berührten sich flüchtig und Ralf sah

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