Reuenthal o - Fetter Tag

Bild von Klaus Mattes
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Bernhard hatte er seinerzeit als Student in Freiburg kennen gelernt, wo der immer noch lebte und einiges Ansehen genoss als Sonderpädagoge und Stadtrat der Grünen. Bernhards Familie saß im Saarland, sein Vater war einer der Chefärzte von einer Klinik. Es gab zwei Brüder und drei Schwestern und alle waren irgendwas Sozialerziehendes geworden. Außer dem Jüngsten, Bernhards Bruder Jörg, welcher in Wien das Lebens eines Callboys führte. Na ja, wohl doch nicht, Bernhard sprach ungern von ihm.

Der Mann, Peter, hatte diesen Bernhard in einer dynamischen Männer-Erfahrungsgruppe kennen gelernt und sich in ihn seinerzeit sofort verliebt. Bernhard war nicht nur auffallend groß, intelligent und gesittet, sondern auch noch äußerst dünn, geradezu knochig, besonders im Gesicht, was den Mann verrückt gemacht hatte, wenn er dieses extreme Hellblond sonst auch nicht mochte.

Abgespielt hatte sich dann nie etwas, weil Bernhard mit Gleichaltrigen nichts anfangen konnte, vielmehr immer sofort mehrere Jahre mit seinem Festen zusammenwohnte, welcher als Bernhards jeweiliger Vater hätte durchgehen können, meist irgendwie übergewichtige und phlegmatisch erscheinende Typen, die Peter drei Mal langweiliger als sich selbst empfand.

Bisweilen hatten die Väter mit der Zeit sich als unerwartet instabil herausgestellt. Eher hatte Bernhard sie halten müssen, als dass sie da was gehalten hätten. So war des Derzeitigen Alkoholkonsum Gegenstand mancher Telefonunterhaltung geworden. Wobei bedacht sein musste, dass Bernhard ein Abstinent war von allem, was gegen die Lebenserwartung lief. Außerdem war der Freund, obwohl längst jenseits der Vierzig, nach wie vor auf der Suche, was seine Berufung, nämlich zum Bühnenleben, anging. Er hangelte sich durch allerlei Arbeitsgelegenheiten, war von Bernhard als Workshop-Referent an der Freiburger Behindertenschule bestimmt auch schon mal vermittelt worden.

Dann, irgendwann, kam immer jener Punkt, wenn Bernhard ihn zärtlich anblickte und die Frage stellte, was bei ihm so los wäre.
Und wirklich jedes Mal: „Da hat sich noch nichts weiter getan seither.“
In der Tat taten Peter diese Gespräche mit Bernhard, dem Jugendfreund, nicht länger gut. Hinterher lief er als Versager davon. Solange Bernhard sprach, schien alles einfach.

Im Zug auf der Fahrt nach Stuttgart überlegte er sich, ob er den Jungen aus der Geschichte rauslassen könnte. Timo war beim Telefongespräch zwar im Zimmer gewesen, aber Bernhard hatte nichts gemerkt. Dem Jungen war sowieso egal, was der Mann am Telefon mit den Anrufern hatte. Zum Glück hatten in letzter Zeit einige angerufen. Dem Leben nach, das sie gerade führten, hatte es den Anschein, als wäre nie jemand außer dem Jungen in die Nähe des Mannes vorgedrungen.

Bernhards Freund, einer von der Freiburger Musikhochschule, Sänger eigentlich, aber nicht so überragend gut, wie man sein musste, um wenigstens für einen Chor angenommen zu werden, probte an einer privaten Bühne in Stuttgart eine Revue über den deutschen Schlager. Premiere war an diesem Samstag noch nicht, sonst hätte Peter an Bernhards Seite womöglich in dem erwartbar schauerlichen, nervigen, peinlichen Stück sitzen und es hinterher über den grünen Klee loben müssen. Es stellte sich heraus, dass der Freund nicht zum Treffen erscheinen würde. Es gab was Akutes im Theater.

Sie hatten sich für Nachmittag unweit dieser Bühne ins Brick-a-Brack verabredet, ein schwules Café aus Glas und Chrom, das von vielen Heteros und manchen Lesben auch aufgesucht wurde. Bernhard, Gehörlosenlehrer um die vierzig, an sich fremd, sah wie ein Platzhirsch aus: schneidig getrimmtes Blondhaar, Armani-Brille, irgendwie sackgroßes, astronautenhaft strahlendes Shirt, das vermutlich mit Techno-Clubs was zu tun hatte, welche Bernhard, der Richard-Wagner-Lauscher, sicher nicht liebte. Bernhard hatte einen Milchkaffee vor sich stehen.

Er war, anderes zu erwarten, hätte bedeutet, ihn schlecht zu kennen, dieser Tage angeschlagen, kränkelnd. Die Künstlerkreise waren auch ein besonderer Schlag, zumal wenn eine Premiere bevorstand. Damit war das Thema vorgegeben. Bernhards Freund schien, vom Ärger vor dieser Premiere abgesehen, sich gut zu entwickeln. Den Alkohol hatte er abgedreht.

Unverhofft bestünde auch die Chance auf ein Stadttheater-Engagement, nämlich in Frankfurt an der Oder. Obwohl er ihm diese Chance gönne von Herzen, war Bernhard von Frankfurt an der Oder nicht angetan. Das war weit von Freiburg, an der polnischen Grenze. Sein Freund habe beteuert, Frankfurt stehe vor dem Aufschwung. Was sich dort hinten gerade tue, wäre unglaublich. Ein Freund habe ihm erzählt, jene Randlage habe ein Sammelsurium unverschämter Talente ausgelöst. Ob er wisse, dass Volker Schlöndorff bei „Der Unhold“ etliche der kleineren Rollen mit Frankfurt/Oderern besetzt habe, ob er diesen Film kenne, wie er den finde. Peter hatte das fragliche Ding nicht gesehen. Den Schlöndorff hatte er längst abgeschrieben. Bernhard, der selbst eher selten ins Kino ging, versuchte manchmal, Peter zuliebe das Gespräch auf Filme zu lenken.

Bernhard meinte, er wisse eines, dass er die Stelle in Freiburg nicht für ein eheähnliches Zusammenleben links der Oder aufgeben werde. Obwohl ja alles gut laufe, frage er sich in letzter Zeit schon auch mal, wie viel ihm daran liege. Den Freund, der gearbeitet hätte an sich, dann wohl also zu verlassen, wäre aber nicht einwandfrei. Ihre Beziehung sei aber in Routine erstarrt. Alles laufe nach dem gleichen Drehbuch. Nicht mal unbefangen streiten könne man unter den waltenden Umständen.

Und im Bett so? Bernhard nuschelte, tja, es klappe schon alles, aber in letzter Zeit fühle er sich zu Spielchen aufgelegt, zum Experimentieren mit Neuem. Genau die Kuschligkeit und Knuddeligkeit, die ihm den Freund kostbar gemacht hätten, wirke inzwischen fast spannungsarm, er wisse auch nicht.

Der Mann kratzte sich am Hemd. Noch tat sein Brustbein weh, wenn man daran dachte. Und bei mir, sagte er, da sei, wie immer, alles beim Alten. Er gehe weiter meist zum Park. Neulich wäre etwas mit einem süßen Zweiundzwanzigjährigen gelaufen. Bernhard kenne ja seinen alten Jugendfetischismus. Bernhard lächelte milde. Der Mann staunte, dass man nichts mehr von ihm zu erwarten schien.

Freiburg hatte sich mit den Jahren ziemlich verändert, zu seinem Vorteil, die Lebens- und Kulturqualität sei gestiegen. Und im Sommer, dieses Jahr, werde er nach Irland fahren, mit einer Freundin, und in einem früheren Kloster einen Theaterworkshop besuchen.

Es war lange nicht dunkel und schon sagte Bernhard, er ginge besser rüber und sehe mal nach. Peter war auf so einen eiligen Schluss nicht vorbereitet. Um Timo deutlich zu machen, dass er nicht der einzige Mensch war, um den der Mann sich kümmern musste, hatte er angekündigt, vor Mitternacht wäre er auf keinen Fall zurück. Er hatte Timo den Fleischkäse im Kühlschrank gezeigt und die Kartoffeln fürs Braten geschält und in Schnitze geschnitten. Der sollte merken, wie es war, wenn man auf jemand warten musste.

Darum schaute Peter sich jetzt erst noch einen künstlerischen Film mit einiger Überlänge an.

Als er etwas nach Mitternacht die Tür zur Wohnung aufschloss, schlug ihm ein Geruch von Angebranntem entgegen. Halb nackt und komplett durchgedreht stürzte Timo auf ihn zu.
„Guck mal, mit deiner Anlage stimmt was nicht.“

In der Tat herrschte in der verpesteten Wohnung magische Stille. Der Verstärker tat nicht mehr. Das rote Power-Licht ging nicht mehr an.
„Auf einmal weg, mittendrin.“
„Du hast da nichts dran gemacht?“
„Musik, so wie immer.“

Inzwischen hatte der Mann hinter dem Verstärker an der Wand und auf dem Boden Spuren einer Feuchtigkeit entdeckt. Andererseits war bei dem Gerät ein solches Ende schon länger abzusehen gewesen.
„Es liegt an mir. Ich bin verflucht. Der Satan will mich. Durch mich hast du nur Unglück.“

Die Pfanne stand in der Mitte vom Herd, verbrannte Kartoffelstücke klebten daran. Der Fleischkäse war verschwunden, beide Scheiben. Seinen Teller hatte der Junge ohne Aufforderung abgeräumt. Peter genehmigte sich noch Brot, Käse und ein Bier dazu.

„War nett mit dem Bernhard. Der Freund war nicht dabei. Da gibt’s Probleme am Theater. Der Freund soll Arbeit als Schauspieler kriegen, aber in Frankfurt an der Oder. Bernhard macht jetzt auch in Theater, Theater-Workshop in Irland.“
„Theater-Workshop, nur Spinner. Ich geh ins Bett.“
„Putz dir die Zähn! Pass am Klo auf!“

Er rauchte, schmiss die Käserinde weg und schabte die Kartoffelschlacke hinterher. Er schwenkte die Pfanne und das Glas aus. Das Wasser blieb in der Spüle stehen.

Er wartete. Das Wasser stand fett und trüb. Er ging und holte den Saugstopfer. Es blubberte, dreckiges Wasser schien in Fluss zu kommen. Er spülte heiß nach. Da merkte er, dass nichts floss; es stieg höher.
„Timo, der Abfluss ist zu.“
Der Junge machte einen auf Schlafenden.

„Hast du in der Küche vielleicht den Abfluss verstopft?“
„Was ist?“
„Der Abfluss von der Spüle! Heut Mittag ist das noch gegangen. Hast du eine Idee, wie das kommt?“
„Keine Ahnung, klar, ich bin schuld. Lass mich schlafen!“

Am anderen Morgen stand das Schmutzwasser immer noch. Er brauchte erst einen Kaffee und sie frühstückten. Der Junge freute sich. In dieser Woche würde er sein Geld kriegen.
„Dann bin ich hier weg. Ewig die finstre Höhle. Musik kann man jetzt auch nicht mehr machen.“
Der Mann blickte geschmerzt.

„Das willst du auch, dass du wieder mehr für dich bist.“
Sie rauchten noch eine.

„Jetzt zu unserer Rohrreinigungs-Stunde. Du musst was reingeschüttet haben, das es verstopft hat.“
„Klar, ich bin schuld.“
Er flegelte sich drüben aufs Bett und schloss die Augen.

Man konnte nur von unterhalb rankommen. Er musste die Flaschen aus dem Stauraum unterm Rohr räumen, einen Eimer unterstellen, an dem Plastikgewinde fest drehen.
„Wie wär’s, wenn zur Abwechslung du das Bett machen würdest?“, schimpfte er hinüber.
„Wie wär’s, wenn du zur Abwechslung das Bett machen würdest!“, probierte Timo seine Schauspielerbegabung jetzt auch.
„Ich bleib jetzt liegen. Wir machen sowieso nichts am Sonntag.“

Okay, der Verstärker mochte ohne Mitwirkung ein Leck erlitten haben, aber das hier war nicht vorstellbar ohne ihn.
Ein mäßiger Schwall Dreckwasser lief dem Mann über die Hand. Er schraubte das zweite Gewinde am U-Rohr auf. Innen war alles weiß. Nahtlos weiß ausgestopft. Er hatte ungefähr einen halben Block unglaublich weiß gebliebenen Bratfetts vor sich, halbrund gegossen.

„Das darf... ! Timo, komm her! Das Rohr ist sauber. Bis auf die fünf Zentimeter Fett, wo du reingekippt hast!“
„Na, freu dich doch, dann hast du’s ja gefunden.“

„Weißt du, ich hab’s satt, dass ein Idiot immer deinem Chaos nachräumen muss!“
„Lass mich in Ruh, mir geht’s nicht so gut.“
„Mehr hast du nicht beizutragen?“
„Ja, ja, du bist mich bald los, reg dich wieder ab, Mann!“

„Da freu ich mich dann. Man braucht nicht ein halbes Biskin für eine einzige Pfanne. Das kostet auch.“

Timo tat sich die Fäuste auf die Augen.
„Ah, ah, mir tut mein Kopf weh.“