Die modernen Samariter - Ein Hörspiel - - Page 4

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noch Geld drin, Signor Sassoli?“ (Lauernd)

Sartory, mühsam: „Lass... lass... lassen Sie mich mal überlegen (ächzt)... Ich ging mit genau 75 Euro zum Einkaufen, zum Riedel, das war rund um 10 Uhr 30. Und eingekauft habe ich... für... ähm... aaah, mein Kopf, ich hab solches Schädelweh...“

Reiffenstecher unterbricht, hastig: „Hier, jetzt habe ich Ihren Kassenbon. Ist ja jetzt Pflicht, dieser Kassenbon. Und da steht es ja: Sie kauften für 37,49 Euro ein. Dann müssten in der Geldbörse noch... Dann müssten da noch... Nach Adam Riese... Fast, tja, in etwa, beinahe... (sieht Hilfe suchend erst zu Sartory, dann zu Klaus Grebert, schließlich zu Moldenhauer hin). Grebert, der schon immer gut im Kopfrechnen war, stolz: „Dann sind in der Geldbörse noch exakt 37,50 Euro. Ha!“

Er erinnert sich der Aufgabenstellung in der 3. Klasse. Alle Schüler mussten stehen. Der Lehrer gab vor: Zum Beispiel 137 x 118. Wer es als Erster wusste, durfte sich setzen. Grebert war, bis auf 1 einziges Mal, stets der Erste, der sich setzen konnte.
Moldenhauer, triumphierend: „Einundfünfzig!“

Grebert: „Wie... wie bitte?“

Moldenhauer: „Es sind noch genau 37,51 Euro in der Scheiß-Geldbörse drin!“

Grebert: „Na ja, der eine Pfennig! Macht den Kohl jetzt auch nicht gerade fett, oder?“

Reiffenstecher: „CENT!“ (fühlt sich überlegen)

Moldenhauer: „Was sind Sie denn für´n Korinthenkacker!?“

Reiffenstecher: „Ich darf doch wohl sehr bitten, ja?“ (beleidigt)

Publikum äußerst sich drastisch zu den Geschehnissen. Man ist entweder auf der Seite Danny Moldenhauers, oder auf der Seite Klaus Greberts, einige wenige halten es mit jedoch mit Reiffenstecher. Diese Fans sind jedoch deutlich in der Minderheit.

Überhaupt wird das Geschehen nicht nur ausführlich von allen Seiten beleuchtet, man diskutiert auch die mangelnde Hilfestellung. 2 schwer Verletzte liegen auf dem Bürgersteig, einer sogar halb auf der Straße. Keiner hilft, niemand erleichtert ihnen die derzeitige Lage. Das wird von einigen bemängelt, die Mehrheit jedoch äußert sich lediglich zum Geschehen am Rande (geplatzte Speisequark-Becher, Thunfisch, die Differenz von einem Cent, auch kommt die Frage innerhalb des größer werdenden Publikum-Andrangs auf, wer denn heute bitteschön noch in DM umzurechnen gewillt sei), das irgendwie lustvoll-angewidert-fasziniert und sehr interessiert beäugt wird.

Grebert, an Reiffenstecher gewandt: „Halten Sie sich doch gefälligst ganz raus, Sie Schlemihl und Schmock. Ist gar nicht an den Unfällen beteiligt und will dennoch dick absahnen, was? Nicht an den Unfällen beteiligt sein und fett abgreifen, hä? Geld UND Lebensmittel, wie?“ (Sehr streitlustig)

Moldenhauer (verbrüdert sich mit Grebert): Ganz richtig! Warum kriegt DER denn überhaupt alles ab? Thunfisch UND Kohle?! Das ist ja in höchstem Maße ungerecht. Wir sollten uns das jetzt unter gar keinen Umständen bieten lassen. Das wird ALLES unter uns Dreien aufgeteilt! Nein, noch besser! Das Geld sollte für Sie und für mich sein, den Einkauf mag meinetwegen der gierige Schmierlappen dort drüben (zeigt mit der Nase zu Walter Reiffenstecher hinüber) an sich nehmen, von mir aus...“

Das Publikum hat wieder einen gewaltigen Aufhänger für pro und contra-Reden gefunden. Wilde Diskussion, als permanentes Gemurmel zu hören, ab und an ist auch ein Wörtchen, ein Satzfetzen zu hören: „Unerhört das! Nicht zu fassen! Dreist, wirklich sehr dreist...“ etc.

Grebert: „Nun mal langsam mit den jungen Pferden. Nicht so hastig. Augenblickchen mal...“ Nimmt die große Leinentasche hoch, betrachtet den Inhalt sehr genau, indem er umschichtet und wühlt. Dann, nach einigen Minuten, hier ist nur das Publikum zu hören, natürlich zusätzlich zum Stöhnen Moldenhauers und dem Ächzen Sartorys: „Ich beanspruche die Nackensteaks und die Remoulade für mich. Auch möchte ich, quasi als Ausgleich für die lange Wartezeit hier, denn durch diesen Mist (zeigt auf die beiden Unfall-Autos, den in einer Blutlache auf dem Gesicht liegenden Sartory und den schwer verletzten Moldenhauer; alle Anwesenden sind sich des Publikums sehr bewusst - man bringt die ganz großen Gesten, redet deutlich lauter, alles für die Galerie) bleibt mir ja keine Zeit mehr zum Einkaufen heute. Bis diese lahmen Polizisten das Unfallgeschehen dann endlich mal aufgenommen und ihre Fotos gemacht haben, und wir alle dann endlich entlassen sind, vergeht so viel Zeit, dass ich nicht mehr meine Einkäufe tätigen kann heute. Ich will die Nackensteaks. Und auch die Scheiß Remoulade. Zusätzlich zur Erdnussbutter und dem großen Glas Nutella. So!“

Das apodiktische So! hatte ihm einen großen Schub fürs Selbstwertgefühl gegeben, denn seine Rede wurde von erst lahmem, dann immer lauter werdendem Applaus begleitet. Besonders eine ältere, dickliche Frau tat sich hier hervor, die „Bravo“ und, völlig sinnentleert, „Evvivat“ rief. Immer wieder. Wohl ein arg großer Fan des Klaus Grebert. Vielleicht verwechselte sie ihn ja mit Claus Kleber. Wer weiß? Man nahm Anteil am Geschehen. Die Traube mochte mittlerweile gut 60 Personen umfassen. Deutlich dabei: Frauen und Männer sind nahezu gleich verteilt.

Reiffenstecher: „Hat denn überhaupt schon wer die Polizei gerufen?“ (Fühlt sich überlegen. Er denkt doch immerhin an wirklich wichtige Dinge. Fühlt sich wie einer, der bei den Wartenden an einer Fußgänger-Ampel als Einziger daran denkt, den Knopf zu drücken, damit das grüne Signal endlich kommt)

Grebert und Moldenhauer, unisono: „Sie wollten sich doch raushalten, ´dammich eins! Halten Sie doch endlich mal Ihre Klappe, Sie selbstgerechter Volltrottel!“ (das muss auf den Punkt genau gleichzeitig gebrüllt werden, wobei zwischen dem Wort „eins“ und „Halten“ genau 2 Sekunden Zeit verstreichen soll, abgezählt in typischer Manier: Einundzwanzig, zweiundzwanzig. (Starke Betonungen sind fett markiert!)

Walter Reiffenstecher, stark verschmollt: „Na, Sie sind ja alle beide wirklich großartige Vertreter unserer ganzen Spezies, oh ja. Die Menschheit kann sich wirklich glücklich schätzen, solch exorbitant großartige Persönlichkeiten hervor gebracht zu haben. Jawoll, glücklich schätzen!“ (ist extrem beleidigt)

Grebert, an Reiffenstecher gewandt: „Ich biete Ihnen hiermit Prügel an! Heftige!“ (Ist dabei, seine Jacke auszuziehen)

Moldenhauer, Schmerz verzerrten Gesichts, aber deutlich zu verstehen: „Und könnte ich es nur, dann hülfe ich Jenem!“

Sartory, undeutlich, aber noch zu verstehen, greift ins Geschehen ein: „Ist denn das grammatikalisch überhaupt korrekt? Dann hülfe ich Jenem?“

Moldenhauer und Grebert, direkt an Sartory gerichtet: „Also, wer kriegt denn nun hier Ihre Nackensteaks?“ (unisono)

Sartory, wieder blubbernd (den Effekt erzielt man am besten, wenn während der Sprechstimme Sartorys ein anderer Sprecher mit dem Strohhalm leichte Blasen in einem Wasserglas erzeugt, rhythmisch, im Takt zum Gesagten): „So mag sie doch nehmen, wer immer es will. Mich tangiert das alles beim besten Willen nicht mehr. Ich bin, wie man so schön sagt, am weiteren Geschehen rein gar nicht mehr wirklich interessiert, die Herren. Mit mir ist´s vorbei. Ich schaff´s nicht mehr. Bei mir gehen in wenigen Minuten bereits die Lichter aus. Ich pack´s nicht mehr lange....“

Kommentar im Pulk: „Der sollte sich mal so langsam einen neuen Text einfallen lassen.“ „Das kennen wir doch schon alles!“ „Alter Hut!“ „Mann, wie öde!“ „Der Typ braucht aber fürs Abnibbeln!“ „Was´n Käse!“ „Olle Kamellen!“ „Langweilig!“ „Is´ mir öde!“ „Den Film kennen wir doch schon!“ „Leg mal ne neue Platte auf, Opi!“ usw.

Reiffenstecher, hatte zwischenzeitlich die Geldbörse Sartorys eingehend untersucht, alle Fächer und sämtliche Inhalte: „Hier sind Ihre Papiere, Herr Sassoli. Sollte ich Ihnen den Ausweis nicht vielleicht, zur besseren Identifikation der späteren Leiche, vorne in die Hemdtasche stecken, nein?“

Sartory: „Das scheint mir eine sehr gute Idee zu sein, doch doch...“ (wundert sich zwar wiederholt über die Anrede „Sassoli“, hat aber keine Kraft, darüber eine große Rede vorzubringen, er belässt es einfach dabei)

Ergo nimmt Walter Reiffenstecher den Personalausweis und den McDonald´s Kaffee Sammelpass, plus einer Monats-Karte für die öffentlichen Verkehrsmittel, sieht auch noch einen Blutspende-Ausweis - und steckt nun mühevoll alles vorne in Sartorys Hemdtasche, quetscht es regelrecht hinein. Die Hemdtasche ist völlig überladen. Dabei hatte er jedoch den heftig stöhnenden, sich stark dagegen wehrenden Sartory leicht herum gedreht, stützte ihn nun auf einem Knie ab, was Sartory offensichtlich sehr große Schmerzen bereitete, und lässt ihn nach erledigter Arbeit wieder in die exakt gleiche Stellung fallen, direkt auf das Gesicht, wischt sich die mit Blut besudelten Hände an Sartorys Hemd hinten am Rücken ab, steht auf, fragt ihn nun: „Und? Sind Sie Organspender? Dann könnten wir (Zeigt auf die Herren Klaus Grebert und Danny Moldenhauer) den Sanitätern das doch gleich mitteilen. Ist ein Aufwasch, Sassoli.“

Die Höflichkeitsanrede entfällt. Hier haben wir es ja nur mehr mit einem Klumpen Fleisch zu tun, einem heftig blutenden Nackensteak.

Sartory: (Blubbert Unverständliches) „Braat Rachmaninoff guuut duuuuurch...“

Grebert: „Das versteht ja keiner mehr, was der da brabbelt...“

Moldenhauer, angestrengt: „Der nibbelt wohl gerade ab... Wenn nicht bald dieser Scheiß-Rettungswagen kommt, blüht mir das gleiche Schicksal!“

Reiffenstecher: „Sollten wir nicht... Ich meine... Nun ja, eine Art Gebet oder so etwas sprechen? Nein?“

Grebert und Moldenhauer, wieder unisono, an Reiffenstecher gewandt: „Sie tumber Vollpfosten! Wollten Sie sich nicht total raushalten? Aus allem? Aus dem kompletten Geschehen? Wollten Sie das nicht?“

Endlich, der Rettungswagen ist aus der Ferne zu hören, er kommt nur mühsam durch. Aber die letzten gut 300 Meter hat er freie Fahrt, erhöht die Geschwindigkeit rapide, schießt heran, biegt nun mit lauter Sirene, Ohren betäubend, um die Ecke, rast direkt auf das Geschehen zu. Walter Reiffenstecher wollte gerade die Straße mit dem Einkaufsbeutel Sartorys überqueren, um die Steaks Grebert zu überreichen - da erfasst ihn der RTW Breitseite! Die Sirene erstirbt dramatisch quäkend, am Ende ist nur noch ein langsam auslaufender Ton zu hören, deprimierend schräg. Mit voller, ungebremster Wucht trifft der schwere Wagen auf Reiffenstecher, der gute 4 m weit fliegt, um dann, mitten auf der Straße, bizarr verkrümmt und heftig blutend, liegen zu bleiben. Der Aufprall ist, wie immer, sehr genau zu vernehmen. Der Mann ist leider sofort tot. Gehirnmasse fließt in nicht unerheblichem Rahmen auf die Straße. Auch der Pulk ist echt entsetzt. Bis auf Aaah und Oooh kommt eigentlich nichts mehr von den vielköpfigen Zuschauern des Dramas. Ab und an ein „Entsetzlich!“ oder auch ein „Wie schrecklich!“ Sonst aber ist der Pulk angemessen traumatisiert. Den Kindern werden von den anwesenden Müttern oder Vätern die Augen verdeckt. Die Wucht des Aufpralls war gewaltig. Die träge fließende Gehirnmasse entsetzt auch die hier derberen Gemüter vor Ort. Ganz plötzlich wird man sich seiner Sterblichkeit bewusst.

Die beiden blutjungen Sanitäter springen aus dem Einsatzfahrzeug, betrachten die Szenerie in großer Sorge, untätig, in stummem Entsetzen und in teilnahmsloser, absoluter Hilflosigkeit. Grebert schnappt die fast intakte Einkaufstasche des immer noch röchelnden Sartory und spricht den knapp neben ihm stehenden Fahrer des RTW an: „Das hier ist übrigens mein Einkauf! Und der dort drüben (zeigt auf Sartory) heißt David-Maria Sassoli. Es geht ihm gar nicht gut... Schwer zu sagen, aber ich glaube, der schafft´s nicht!“

Moldenhauer, relativ deutlich: „Aber das Portemonnaie gehört mir. Mir allein!“

Sartory, jetzt doch wieder ganz gut zu verstehen, laut: „Ich spende keine Organe! Nich´ mal ´ne Milz! Damit das klar ist!“

Grebert zu Moldenhauer: „Nicht normal, der Typ. Anscheinend haben wir es hier mit einer Art von Athanasie zu tun!“

Beide Sanitäter und Moldenhauer: „Athana... waaas?“

In naher Entfernung singt eine seltene Spottdrossel ihr unbekümmertes Lied.

Ende

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Epilog

Dieses eben von Ihnen konsumierte Hörstück ist eine Groteske. Ich denke nicht, dass sich so etwas auf deutschen Straßen abspielen könnte. Und wenn doch, dann in sicherlich doch leicht abgeschwächter Form. Das wäre wünschenswert.

Für Ihre freundliche Aufmerksamkeit während dieses Programms möchte ich mich ganz besonders herzlich bei Ihnen bedanken. Sollte ich in irgendeiner Form Ihre sicherlich sehr verletzliche Psyche derangiert haben in diesen letzten (genaue Zeit des Hörstücks hier eintragen!) xxx Minuten, so bitte ich dafür um Entschuldigung!

Auf der Anklagebank saßen heute: Katastrophen-Voyeurismus, Desinteresse, mangelnde Hilfsbereitschaft, Gier, Egoismus und Charakterschwäche allgemein.

Ich entlasse Sie aus diesem Programm mit einem beschwingten: Man hört oder liest sich!

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Kommentare

28. Apr 2020

Schön und anstrengend zugleich.
Herzliche Grüße
Olaf

29. Apr 2020

Liebrer Olaf, ich sitze über Deinem Buch.
Bald erhältst Du die Rezension. A b e r -
sind wir nicht alle etwas anstrengend???
Und dies ganz besonders zu diesen sehr
schwer zu ertragenden Zeiten?

Ich brauche noch 4 oder 5 Tage, dann
bin ich durch. Hernach meine "Kritik".

Vielen Dank für Deinen Post, mein
Lieber. Ich freue mich immer, von
Dir stolzem Musaget zu hören. Es
mag für eine Freundschaft reichen.

Groetjes von Gherkin

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