Seiten
Mal in seinem Leben geheiratet.
Jona versuchte nicht genervt zu wirken, denn in dieser Stadt warteten so viele Probleme darauf gelöst zu werden und ausgerechnet der Hauptverantwortliche gedachte die Debatte auf eine rein persönliche Ebene zu ziehen.
„Ihre Kandidatur erreichte uns ja kurz vor Toresschluss und gerade einmal zehn Prozent der Wähler haben Ihren Namen bis heute schon einmal irgendwo vernommen … Mal ganz ehrlich, warum sollte ich Ihnen eigentlich meine Stimme geben?“.
Bissig formulierte der junge Moderator seine Fragen, wirkte dabei aber sympathisch, sehr sicher und gut vorbereitet.
„Erst einmal danke, dass Sie mich nicht nach meiner Partnerin fragen. Für so etwas habe ich nämlich im Moment keine Zeit.“
Lautes Gelächter machte sich in der Halle breit und Jonas überschaubarer Fanblock im Publikum versuchte so laut wie möglich zu applaudieren.
„Gerne möchte ich Ihre Frage beantworten, aber gestatten Sie mir bitte zuvor den Zuschauern einen Menschen vorzustellen, der mir sehr am Herzen liegt.“
Leichte technische Störungen hätten beinahe die Liveschaltung ins größte Krankenhaus der Stadt zu einer für Jona peinlichen Situation werden lassen. Gerade noch rechtzeitig erschien dann aber doch noch Fritz auf den Monitoren und erzählte in wenigen kurz gehaltenen Sätzen seine Lebensgeschichte, bevor er auf die perfide Tat der Jugendlichen einging und abschließend seinen Rettern dankte.
„Fritz, nur noch eine Frage und dann lass ich dich wieder zu den hübschen Krankenschwestern.“
Ein Teil des verstummten Publikums lachte kurz auf, schloss sich dann aber schnell wieder dem Schweigen der übrigen Zuschauer an.
„Fritz, wenn diese Jugendlichen vielleicht doch noch irgendwann gefasst werden oder sich freiwillig stellen, was soll dann deiner Meinung mit ihnen geschehen?“
Es dauerte ein wenig bis er antwortete.
„Ich möchte diese Jugendlichen fragen, warum sie so mies zu mir waren … und natürlich müssen sie bestraft werden … aber selbst die haben eine zweite Chance verdient …“
An dieser Stelle musste die Liveschaltung abgebrochen werden, denn Fritz weinte jetzt bitterlich und der zuvor vereinbarte Zeitrahmen war bereits überschritten.
Nach wie vor herrschte in der Stadthalle andächtige Stille und einige Frauen und Männer hatten ebenfalls Tränen in den Augen. Bevor der Moderator die Debatte weiterführen konnte, ergriff Jona das Wort.
„Das war Fritz und wenn er nicht mehr leben würde, dann hätten die Medien vielleicht von irgendeinem namenlosen Obdachlosen berichtet, kaltblütig umgebracht von asozialen Jugendlichen. Weniger das Opfer, eher die Täter wären wohl jetzt im Fokus unserer Aufmerksamkeit … Was sind das bloß für missratene Menschen? Einsperren sollte man die oder besser noch … So oder so ähnlich könnte vielleicht auch Ihre oder aber Ihre Meinung lauten.“
Jona zeigte nacheinander wahllos auf zwei Zuschauer.
„Aber anschließend holt uns dann alle wieder der Alltag ein und wir vergessen schnell ein solch schreckliches Ereignis … Liebe Frauen und Männer dieser Stadt, es ist zweifelsohne nicht schwer verwelkte Blumen auszureißen und wegzuwerfen, aber beheben wir dadurch auch die Ursachen für deren offensichtliche Fehlentwicklung? … Jetzt werden sicherlich einige sagen, dass Gendefekte vererbt werden können oder ein mutmaßlich falscher Standort die Hauptursachen sind … Ja, warum nicht, aber so einfach möchte ich mich persönlich nicht damit zufrieden gebe. Guter Boden, Dünger, Sonne, Wärme und vielleicht sogar persönliche Zuwendung sind es doch, die Blumen optimal gedeihen lassen …“
„Sie überschreiten gerade Ihre Redezeit.“, unterbrach der Moderator, doch Jona fuhr völlig unbeeindruckt fort.
„Bereits ein kleiner Funke genügt, um ein Feuer zu entfachen. Ein einzelner Tropfen kann ein ganzes Regenfass zum überlaufen bringen … Und ein ehrlicher Blick auf das Elend vor meiner eigenen Haustür lockert die erste Fessel meines verschnürten Herzens.“
Jona zog während seiner Rede ein paar bunte Wollfäden aus der Hosentasche.
„Angst davor zu kurz zu kommen … Angst davor nicht den gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen zu entsprechen … Angst vor dem Scheitern … Angst vor der Einsamkeit … Angst vor Krankheit und Tod … Angst vor der Angst …“
Passend zu jedem einzelnen Punkt seiner Aufzählung ließ er jeweils einen Faden zu Boden gleiten.
„Natürlich sind diese Ängste berechtigt und bei dem einen oder der anderen von uns leider zur Realität geworden, aber sie dürfen nicht zu einem Netz werden, mit dem unser Herz gefangen genommen wird. Wir brauchen ein freies Herz, das uns mit seinem unaufhörlichen Pochen Kraft, Geduld und Zuversicht gibt. Wir brauchen ein freies Herz, von dem Wärme ausgeht, die das Eis der Gleichgültigkeit schmelzen lässt. Wir brauchen ein freies Herz, das den kostbaren Lebenssaft zum Treibstoff menschlichen Handels veredelt. Wir brauchen ein freies Herz!!!“
Aus Leibeskräften wiederholte der anwesende Fanblock mehrmals hintereinander Jonas letzten Satz.
„Mit freiem Herzen unsere Ängste in die Schranken weisen und sie dadurch überwinden lernen. Mit freiem Herzen den Blick auf unsere Mitmenschen richten und uns selbst dadurch mit anderen Augen betrachten dürfen. Mit freiem Herzen unseren Hilflosen helfen und dadurch selbst zu echter Stärke gelangen. Wir brauchen ein freies Herz!!!“
Immer mehr Zuschauer wurden Teil eines Chors, der in kürzester Zeit die gesamte Stadthalle erfüllen sollte. Trotz mehrmaliger Versuche gelang es dem Moderator nicht mehr die Situation unter Kontrolle zu bringen. Letztendlich musste die Debatte abgebrochen werden, zumal Bürgermeister Klumpet bereits wutentbrannt die Bühne verlassen hatte.
Zum Greifen nahe war das Gipfelkreuz. Jona hatte es nach anfänglichen Schwierigkeiten geschafft den Berg zu erklimmen. Getragen von einer Welle der Euphorie schien ihm der Aufstieg immer leichter zu fallen, je höher er kam. Seine Hände berührten das ersehnte Ziel, als wie aus dem Nichts ein Teil der Spitze des Berges abbrach und ihn mit in die Tiefe riss. Nur noch eine Frage von Sekunden, dann würde sportlicher Ehrgeiz mit dem Tod bestraft werden …
„Hey Jona, wach auf, wir sind da!“
Nur langsam fand der stark erhöhte Herzschlag wieder zu seinem gewohnten Rhythmus zurück. Hier auf der Rückbank des Wagens fühlte sich Jona deutlich besser aufgehoben als in seinem Traum, aber ganz und gar nicht glücklicher.
Die letzten beiden Wochen waren dank jener Debatte und vor allem dank der entsprechenden Liveschaltung zu Fritz ins Krankenhaus perfekt gelaufen. Alle Umfragewerte stiegen steil an und in der letzten Projektion sah man Jona eindeutig auf Augenhöhe mit Bürgermeister Klumpet. Am Wahlsonntag selbst vergingen die Stunden wie Tage, aber selbst die erste Prognose nach Schließung der Wahllokale sollte daran noch nichts ändern. Bürgermeister Klumpet und Jona lagen bei jeweils circa fünfunddreißig Prozent gleichauf. Beide übrigen