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Internet und wenn es sein muss auch …“
Aus der Ferne eilte Freddy herbei, ihr dabei bedrohlich immer näher kommend.
„Hau ab und zerstöre so schnell wie möglich dein Smartphone!!!“
Es hatte etwas von einem Horrorfilm. Der eine Freak schüchterte sie digital ein, während das Original ihr plötzlich half. Nicht wirklich überzeugt, aber ohne Plan B, fand sich das Handy schnell auf einem Baumstumpf wieder und wurde dank herumliegendem Gestein unbrauchbar gemacht. Zur Sicherheit teilte auch die entsprechende SIM-Karte dieses Schicksal.
Mit letzter Kraft erreichte Constanze Minuten später die Hauptstraße, hielt dort ein Auto an und wurde schließlich mitgenommen. Eine glückliche Fügung des Schicksals, denn die Dame hinter dem Steuer verweigerte erfolgreich jegliche moderne Kommunikationstechnik. Auch das Fahrzeug war aus dem letzten Jahrhundert und ohne Navigationsgerät ausgestattet, was einen digitalen Übergriff also vollständig ausschloss.
Gegen Mittag stand sie völlig fertig vor ihrem Haus. Zitternd öffnete Constanze die Tür und vernahm durch gezieltes lautes Fragen die Nichtanwesenheit der Eltern. Zuerst wurde ein WLAN-Router vom Netz genommen. Auf der Suche nach weiteren Gefahrenquellen, verloren dann sicherheitshalber zwei batteriebetriebene Funkwecker ebenfalls ihre Stromversorgung. Vor lauter innerlicher Unruhe musste der eigene Hunger erst einmal hintenanstehen, lediglich zwei Gläser Milch gegen den Durst sollten in wenigen Zügen geleert werden. Statt in ihr Zimmer, ging es hinauf zum Dachboden, um in der kleinen Kammer ungestört über alles Weitere nachzudenken.
In sich zurückgezogen, hockte sie vor dem kleinen Tisch und beobachtete meditativ die darauf ruhende Bienenwachskerze. Plötzlich bewegte sich das Objekt wie von Geisterhand.
„Ist da jemand?“
OK, der Typ, ihr Entführer, war sicherlich völlig durchgeknallt gewesen. Andererseits ging es in den vergangenen Tagen wirklich nicht mit rechten Dingen zu, was das Verschwinden ihrer Schwester betraf ….
Constanze spürte in diesem Moment deutlich die Anwesenheit einer weiteren Person oder war es etwa nur Einbildung? Gespannt wurde der goldene Ring vom Mittelfinger gezogen und auf den Tisch gelegt. Das spontan ausgedachte Experiment konnte beginnen.
„Wenn du es bist Carlotta, dann nimm jetzt bitte Omas Ehering.“
Nichts geschah. Gerade in dem Moment als Constanze den Reif wieder an sich nehmen wollte, begann dieser jedoch langsam zu schweben. Schließlich schien er sich geordneter zu bewegen, als ob man ihn irgendwo fixiert hätte. Wenige Zentimeter über der Tischplatte malte das Schmuckstück jetzt imaginäre Zeichen, die sich beim genaueren Hinschauen als Großbuchstaben entpuppten. Das erste Symbol, ein „U“, wiederholte sich so häufig bis dem mystischen Treiben mit höchster Aufmerksamkeit gefolgt wurde.
„UMSPANNWERK SONNENUN …“
Constanze traute ihren Augen nicht, denn soeben hatte sich der Ring in Luft aufgelöst. Egal, ob dies gerade wirklich geschah oder nicht, es gab für sie wohl gar keine Alternative zu der Aufforderung, bei Sonnenuntergang am Umspannwerk zu sein.
„Kannst du mich bitte einmal ganz fest in den Arm nehmen?!“
Wie ein angenehmer Wind, der scheinbar aus allen Richtungen kommend auf den menschlichen Körper trifft, fühlte sich die Berührung an. Wohlige Wärme in ihrer Magengegend, ein Gefühl, das man gewöhnlich nur Personen entgegenbrachte, mit denen man auf eine gewisse Art und Weise sehr eng verbunden war. Constanze schloss die Augen, wohlweißlich, in ihrer älteren Schwester ebenfalls eine sehr gute Freundin zu haben. Als wieder Licht von der Netzhaut aufgenommen wurde, sah sie für einen Moment in ein schwach schemenhaftes, aber dennoch vertrautes Gesicht.
„Carlotta!!!“
Konturen und Gefühl verschwanden binnen Sekunden, dafür lag jetzt direkt neben dem Kerzenteller ihr goldener Ring. War alles nur ein Traum gewesen? Es gab nicht viele Möglichkeiten dies herauszufinden.
Natürlich konnte nur Freddy hinter der Entführung ihrer jüngeren Schwester stecken. Wutentbrannt stand Carlotta an diesem Sonntagmorgen erneut vor seiner Wohnungstür und klingelte mehrere Minuten ununterbrochen, nachdem ihr ein Bewohner durch Verlassen des Mehrparteienhauses Einlass gewährt hatte. Die Nachbarin von nebenan kam heraus und schaute verärgert in den Flur, konnte jedoch niemanden sehen, weder dort noch unten vor dem Gebäude.
Auch mehrere Kontaktversuche per Smartphone waren erfolglos. Schließlich blieb ihr nichts anderes mehr übrig, als die Zeit bis Sonnenuntergang verstreichen zu lassen und sie wusste auch schon wo …
„Bitte nicht!“
Warum um Himmels Willen konnte man hier plötzlich ungesichert eintreten? Instinktiv legte Carlotta die Handtasche mit dem Smartphone im Flur ab. Das gesamte Haus wurde durchkämmt, doch niemand schien da zu sein. Hoffentlich ging es ihren Eltern gut, denn mittlerweile musste mit allem gerechnet werden. Anstatt im eigenen Zimmer gefühlt endlose Stunden über sich ergehen zu lassen, endete der Weg auf dem Dachboden.
„Constanze!!!“
Am liebsten wäre sie ihr vor Freude um den Hals gesprungen. Entweder, die Entführung war nur ein digitaler Bluff gewesen oder ihre jüngere Schwester hatte dank glücklicher Fügung fliehen können. Alles andere ergab keinen Sinn. Jetzt konnte man Carlotta jedenfalls nicht mehr erpressen. Triumphierend wurde der Moment des Erfolges ausgekostet. Halt! Wie konnte ihre Unsichtbarkeit rückgängig gemacht werden, ohne sich mit dem digitalen Zwilling vereinen zu müssen? Nein, die Sache musste ein für allemal beendet werden, doch wie sollte sie sich bloß gegenüber Constanze mitteilen? Dann hörte Carlotta unerwartet ihren Namen, gefolgt von der Aufforderung, Omas goldenen Ehering zu nehmen, der mittlerweile auf dem kleinen Tisch lag …
Heute ging die Sonne exakt um 19:56 Uhr unter. Genau wie zwei Tage zuvor, wiederholten sich die einzelnen Schritte. Glücklicherweise blieb bis zu dem abendlichen Naturereignis noch ein wenig Zeit.
Constanze stand derweil völlig aufgeregt vor dem hohen Maschendrahtzaun. Sicherlich hätte diese Barriere von ihr überwunden werden können, doch der Ort wurde anscheinend gut überwacht. Außerdem fehlten jegliche Informationen, warum sie eigentlich zum Umspannwerk kommen sollte.
Dank wolkenlosem Himmel konnte dann das Abtauchen der glühenden Kugel lückenlos beobachtet werden. Ohne Aufforderung legte Carlotta ihr neues Smartphone ins Gras und sich selbst in einigen Metern Entfernung ebenfalls zu Boden. Nach einer Weile sprühten Funken, dicht gefolgt von blau leuchtenden Blitzen. Zwischen mehreren Stromleitungen erschien schließlich ein Hologramm des digitalen Zwillings.
„Kluges Mädchen!“
„Spar dir den Sarkasmus. Wie du über diverse Kameras ja sicherlich schon gesehen hast, steht da drüben meine kleine Schwester. Da ist wohl bei euch etwas ganz gewaltig schiefgelaufen ...“
Constanze verharrte derweil mit offenem Mund vor dem Zaun und fühlte sich in diesem Moment nicht imstande irgendetwas zu unternehmen.
„Hey, du bist mit Sicherheit nicht gekommen, um mir diese Botschaft zu überbringen. Aber vielleicht kann man dich ja anderweitig überzeugen.“
In diesem Moment hörte Carlotta näher kommende Motorengeräusche. Ein weißer Lieferwagen fuhr vor, Freddy stieg aus, kletterte über den Zaun und lief eilig zu ihr.
Constanze überwand mittlerweile die innerliche Lähmung, fasste allen Mut zusammen und begann den Maschendraht ebenfalls zu bezwingen.
„Carlotta, tu es nicht!“
Er zwinkerte ihr kurz zu, konnte sie also nach wie vor sehen.
„Freddy, bist du jetzt etwa völlig verrückt geworden?! Was ist mit unserem Plan!“
Bei ihrer Landung hätte sich Constanze beinahe den Fuß verstaucht. Ein Sprung aus dieser Höhe war zwar risikobehaftet, aber aufgrund der Ereignisse die schnellere Variante. Vorsichtig näherte sie sich jetzt dem eigentlichen Geschehen, wo ihr Entführer und das wie Carlotta aussehende Hologramm miteinander redeten.
„Seit Freitagabend passieren mit mir Dinge, die vielleicht langsam so etwas wie einen Übermenschen aus mir machen werden, aber gleichzeitig verändert sich mein Kern oder nenne es meinetwegen Seele.“
„Würde ich dich denn lieben können, wenn es in mir drin so etwas nicht geben würde? Welche Wahl bleibt mir denn, wenn sich dieser Sturkopf da unten heute wieder verweigert?“
Freddy bemerkte die näherkommende Constanze.
„Bleib bitte stehen!“
Das Mädchen erschrak, befolgte dann aber sofort seine Anweisung.
„Carlotta, warum bist du denn eigentlich hier, wenn wir dich nicht mehr erpressen können?“
Ihre ältere Schwester war also nicht nur als Hologramm anwesend.
„Ich habe Constanze hergelockt, damit sie Abschied von mir nehmen kann, denn einfach so zu verschwinden ist für einen geliebten Angehörigen viel schlimmer zu ertragen. Keinen Tag länger soll mein Körper mehr unsichtbar sein. Lass es uns also jetzt und für immer beenden!“
„Wie meinst du das. Ich gebe dir schließlich bei erfolgreichem Deal wieder deine Sichtbarkeit zurück?“
In diesem Moment beobachtete Freddy, wie Carlotta ein Schweizer Messer aus ihrer Handtasche hervorholte, es aufklappte und damit die Luft durchschnitt.
„Was würde denn mit dir geschehen, wenn mein Leben plötzlich an dieser Stelle enden täte? Aus deinem digitalen Gefängnis könntest du dann wohl nie mehr fliehen … Ich jedenfalls möchte so nicht mehr länger leben. Nicht mehr wahrgenommen zu werden bedeutet, auf Dauer nicht mehr zu existieren. Im eigenem Körper der Manipulation seines digitalen Zwillings ausgesetzt zu sein, kommt für mich erst recht nicht infrage … Da entlasse ich doch lieber meine Seele in die Freiheit und bleibe in den Erinnerungen der Menschen gegenwärtig, die mir etwas bedeuten …“
Constanze konnte das lange Schweigen zuerst nicht nachvollziehen. Da Freddy aber die ganze Zeit neben sich schaute, musste wohl die unsichtbare Carlotta ebenfalls vor Ort sein und gerade sprechen.
„Dann tun wir es gemeinsam!“
Freddy hielt jetzt auch seine Hand in Richtung Taschenmesser. Völlig unerwartet verschwand kurz darauf das Hologramm und er spürte wieder diesen leichten Schwindel …
Mehrere Jäger waren derweil in die Steuerungstechnik des Umspannwerkes eingedrungen und nahmen dem Hologramm seine Energie.
„Los Freddy, verschwinde! Kehre in den Körper zurück, bevor es zu spät ist!“
Er dachte nicht daran sie in dieser Situation allein zu lassen und legte ihre Hand in seine. Unzählige schwarze Augen näherten sich, umschlossen von rotem Leuchten, ironischerweise die Farbe der Liebe. Kurz darauf entstand ein großer Klumpen, in dessen Mitte sich das Paar dem Schicksal fügte. Immer kleiner schrumpfte das Gebilde, verdichtet zu einem winzigen Punkt, der kurz darauf implodierte, gefolgt von einem Moment der Stille, bis wieder diverse Lichtimpulse vorbeischossen.
„Carlotta?!“
Ungläubig berührte Constanze ihre ältere Schwester, die mittlerweile auf unerklärliche Art und Weise sichtbar geworden war. Das Taschenmesser fiel zu Boden, sie drehte sich um und es folgte eine tränenreiche Umarmung zwischen den beiden Geschwistern.
Freddy stand direkt daneben. Auch er fühlte sich, als ob irgendetwas rückgängig gemacht worden wäre, irgendetwas in seinem tiefen Inneren.
Wochen später, mittlerweile war es bereits Oktober, saß das frisch verliebte Pärchen in einem urigen Lokal beieinander.
„Ich mache mal Fotos von uns.“
„Markus, bitte jetzt nicht. Lass uns doch lieber zu mir gehen, in meinem Zimmer steht eine Digitalkamera im Regal …“
Seltsamerweise hatte Carlotta Gefallen an steinzeitlicher Vergangenheit gefunden. Bewusst verzichtete seine neue Freundin nämlich auf ihr Smartphone, ließ alle Konten in den sozialen Netzwerken ruhen und schien generell viele technische Geräte zu meiden, die mit dem Internet verbunden waren. Vielleicht machte sie ja genau dieses ungewöhnliche Verhalten für Markus so einzigartig.
Damals, unmittelbar vor den unglaublichen Ereignissen, in der kleinen Dachbodenkammer, die brennende Kerze auf dem Tisch, Schmetterlinge im Bauch und ein nachdenklicher Kopf … Carlotta hatte diese Szene wieder klar vor Augen.
„Wir sind doch wahrlich viel mehr als alle Spuren zusammen, die in der digitalen Welt von uns hinterlassen werden.“
Unvorstellbar glücklich beschloss sie, jeden einzelnen Augenblick im analogen Hier und Jetzt zu genießen.