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über, dicht gefolgt von einem trendigen Stoffbeutel mit Schulutensilien und verließ gerade noch rechtzeitig das Haus, allerdings ohne irgendetwas gegessen, geschweige denn getrunken zu haben.
Fußläufig war die Gesamtschule gut zu erreichen, was trotzdem nicht ausschloss, hin und wieder in den Bus zu steigen, um noch schneller ans Ziel zu gelangen. Heute lohnte sich dies allerdings nicht mehr.
Irgendwie schienen an diesem Morgen auch andere Schüler*innen spät dran zu sein. Auf jeden Fall hatte niemand wirklich Zeit zum Grüßen. Beim Betreten des Schulhofes gesellte sich Carlotta neben Janine, eine ihrer besten Schulfreundinnen. Gutes Zuhören war sicherlich eine große Gabe dieses Mädchens, aber aus dem bewusst unterbreiteten Gesprächsangebot einen Monolog werden zu lassen, diente keineswegs der angestrebten wechselseitigen Kommunikation.
„Nicht einmal meine neue Frisur hat sie kommentiert …“
Geschichte stand auf dem Stundenplan und da in diesem Fach eine Abiklausur geschrieben werden musste, konnte Carlotta nicht einfach fernbleiben, obwohl man in ihrem Alter für eine Entschuldigung nicht mehr die Unterschrift der Erziehungsberechtigten benötigte.
Alle folgenden Begegnungen in dem Klassenraum liefen nahezu identisch ab ... Kurze Begrüßung, gefolgt von eingeleitetem Smalltalk und dabei immer ein freundliches Lächeln im Gesicht, auch denen gegenüber, die nicht gerade ganz oben auf ihrer Sympathieliste standen. Doch egal mit wem geredet wurde, es gab nicht die geringste Reaktion.
„Weiß jemand von euch, wo Carlotta ist?“
Jetzt begriff sie endlich, was hier gespielt wurde. Man hatte sich wohl im Vorfeld über die sozialen Netzwerke abgesprochen, um ihr einen Streich zu spielen. Aber eigentlich wusste doch niemand von dem gestrigen Friseurtermin oder hatte etwa Constanze heimlich aktuelle Fotos gepostet? Immerhin stand das verschwundene Smartphone offensichtlich in einem höheren Kontext.
„Hey Leute, ihr seid ja echt krass … Gefällt euch denn wenigstens meine neue Frisur? Jetzt sagt doch endlich mal was!“
Völlig unbeeindruckt startete die Geschichtslehrerin mit dem Unterricht und auch weiterhin nahm niemand Notiz von Carlotta.
„So langsam ist das Ganze wirklich nicht mehr lustig!“
Sitznachbarin Melanie reagierte ebenfalls nicht und blickte konzentriert nach vorn. Plötzlich schaute die Jugendliche jedoch zur Seite, da unsanft an ihrem Arm gezogen wurde.
„Was soll das?!“
„Melanie, seit wann führst du denn Selbstgespräche?!“
Alle anderen in der Klasse lachten, einige äfften ihre Mitschülerin sogar nach. Verzweifelt sprang Carlotta auf, kippte dabei versehentlich ihren Stuhl um und stellte sich demonstrativ neben die Lehrerin.
„Geht’s noch Melanie?! Heb sofort den Stuhl wieder auf!“
„Ich war das doch gar nicht!“
Allgemeines Getuschel machte sich breit.
„Ich raste gleich wirklich aus, wenn ihr mich weiterhin verarscht!!!“
Niemand kommentierte dies.
„Blöde Arschlöcher!!!“
Wütend wurde die Tür aufgerissen, gefolgt von einem lauten Knall, der das unsanfte Schließen begleitete. Carlotta lief schreiend durch den Flur und traf dabei unerwartet auf den Hausmeister.
„Sagen Sie mir bitte, dass die mich hier alle nur hinters Licht führen wollen!“
Völlig unbeeindruckt ging der Mann weiter, wunderte sich dann allerdings darüber, wie von Geisterhand angerempelt zu werden. Die Verursacherin betrat bereits den Schulhof und schrie dort so laut sie konnte. Es war zum Verzweifeln, denn niemand kam ans Fenster um Hinauszuschauen oder anderweitig auf ihren befremdlichen Auftritt zu reagieren.
Unhörbar … unsichtbar … aber trotzdem spürbar???
„Los, komm mit! Es hat eh keinen Sinn …“
Hinter ihr stand jemand, der sie augenscheinlich nicht ignorierte.
Noch nie hatte sie die Schule geschwänzt, was sich aber deutlich besser anfühlte als der erhärtete Verdacht, von anderen Menschen nicht mehr beachtet zu werden. Doch halt, dieser Junge beendete scheinbar vorhin ihren Albtraum und jetzt saßen sie auf einem alten Sofa in seiner kleinen Zweizimmerwohnung. Eigene vier Wände, Carlotta wünschte sich in diesem Moment nichts Sehnlicheres.
„OK, ich müsste mal wieder etwas einkaufen … Wasser ist allerdings noch im verfügbaren Sortiment enthalten.“
„Gerne!“
Für einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Blicke.
„Ich habe dich noch nie an unserer Schule gesehen.“
Er setzte sich wieder und sie leerte das gut gefüllte Glas in wenigen Zügen.
„Freddy vom Gymnasium … äh quasi gegenüber …“
„Freddy?!“
Auf ein kurzes Grinsen folgte leichte Gesichtsröte.
„Ist dir etwa Friedrich lieber?“
„Sorry, mein Name … äh Carlotta heiße ich übrigens … könnte schließlich auch eine Gemüsesorte sein ...“
Schulterlange braune Haare rahmten sein mit Bartpflaum versehenes Gesicht und irgendwie schien ihm dies zu stehen, obwohl sein Äußeres sie so gar nicht ansprach.
„Danke, du hast mir heute echt den Tag gerettet.“
Da kein Tisch vorhanden war, wurde das Glas kurzer Hand neben dem Sofa abgestellt.
„Ebenfalls beruhigend nicht mehr allein zu sein.“
Hatte Freddy das gerade wirklich gesagt? Ruckartig sprang Carlotta auf und stellte sich demonstrativ vor ihm.
„Ach so einer bist du also. Spielst den Helden und in Wirklichkeit sucht der Herr nur eine neue Freundin oder wie?!“
„Du verstehst nicht …“
Während des unangekündigten Verlassens der Wohnung nahm die Handtasche ihren gewohnten Platz am Körper ein. Beutel samt Schulutensilien verharrte dagegen noch im Klassenraum und gehörten offensichtlich nicht zu den wichtigen Dingen, nach denen instinktiv in Fluchtsituationen gegriffen wurde. Sollte der Weg zurück ins Schulgebäude angetreten oder besser schleunigst das eigene Zuhause aufgesucht werden? Carlotta musste unbedingt zur Ruhe kommen. Da zu diesem Zeitpunkt niemand daheim war, entschied sie sich deshalb für Letzteres.
Beim Anblick eines Kiosks sendete ihr Magen starke Signale aus, die nicht mehr ignoriert werden konnten. Da Zucker bekanntlich ausreichend Energie spendete, sollten mehrere Schokoriegel als verspätetes Frühstück dienen. Zielsicher wurde der kleine Verkaufsraum betreten und dann direkt die entsprechende Ware in Kassennähe angesteuert.
„Wie viel macht das?“
Jahrzentelang besaß die ältere Dame bereits dieses Geschäft, aber noch nie hatte sie dergleichen erlebt. Wie von Geisterhand schwebten mehrere Schokoriegel in ihre Richtung, dicht gefolgt von einer sanften Landung direkt neben der altertümlichen Registrierkasse.
„Sie dürfen den Mund gerne wieder schließen oder habe ich etwa Fremdkörper im Gesicht?“ Schnell nippte die Kioskbesitzerin an ihrer Colaflasche und legte die Süßigkeiten kommentarlos wieder zurück.
„Was soll das?!“
Dreimal wiederholte sich dieses Spiel.
„Es ist alles in Ordnung … Sie können mich sehen und hören … Ich bin nicht verrückt … Nein, ich träume … Ja, es ist alles nur ein Traum … Es ist mein Traum …“
Immer stärker verlangte ihr Körper nach Energie. Schnell war der Preis ermittelt, die Registrierkasse geöffnet, passendes Geld hineingelegt und das Fach wieder verschlossen. Leider fanden jene Münzen jedoch nicht wirklich den Weg ins Ziel oder war das Hartgeld … unsichtbar?
So intensiv hatte sie noch nie geträumt, denn die Riegel schmeckten völlig echt, als ob es gerade