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dominierten bekanntlich andere Sorgen.
„Wir können das Ganze ja auch pragmatisch sehen und unsere grenzenlose Narrenfreiheit auskosten.“
„Das dachte ich heute Morgen in diesem Juweliergeschäft auch schon …“
„Worauf warten wir dann noch?“
„Freddy, ich möchte mich nicht so einfach mit meinem Schicksal abfinden und wir sollten uns lieber schleunigst irgendwoher ein Smartphone organisieren. Warum hast du das eigentlich nicht schon in den vergangenen drei Tagen erledigt?“
Sicherlich wären sie in einem Elektrodiscounter fündig geworden, doch ein Diebstahl kam für Carlotta nach wie vor nicht infrage. Deshalb schied ebenfalls aus, wahllos fremde Personen zu erleichtern. Blieb also nur noch das vorläufige Ausleihen von Gegenständen ohne Erlaubnis des Eigentümers. In diesem Fall einer Verwandten.
Unauffällig schlichen sich die beiden Unsichtbaren ins Haus und landeten zielsicher in einem typischen Teenagerzimmer. Poster von männlichen Stars an den Wänden, kombiniert mit digital verschönerten weiblichen Vorbildern, dazu eine starke Dominanz der Farbe Rosa. Constanze gab gerade die Codenummer ein, was Carlotta aufmerksam verfolgte. Bereits nach wenigen Minuten wurde das Gerät beiseitegelegt, dicht gefolgt von dem Gang der jüngeren Schwester in Richtung Badezimmer.
„Sorry Mäuschen, aber es muss leider sein.“
Ohne zu zögern, entwendete Carlotta das verwaiste Smartphone.
Aus pragmatischen Gründen wurde die abseitsgelegene Kammer auf dem Dachboden als Rückzugsort gewählt. Da der Weg dorthin an der Küche vorbeiführte, schloss sich ihnen eine Packung Müsliriegel an. Lautlos erreichten sie schließlich das Ziel und ließen sich gemeinsam vor dem kleinen Tisch nieder.
„Ist ja echt kuschelig hier oben.“
„Hör auf zu nerven.“
Auf die eigenen Accounts konnte Carlotta zwar nicht mehr zugreifen, aber immerhin war ein kurzer Kommunikationsverlauf einsehbar, der heute offensichtlich zwischen Constanze und ihr stattgefunden haben musste.
„Wer gibt sich da bloß als mich aus?“
„Schreib diesen Jemand doch einfach mal an.“
Zittrig tippte sie eine Begrüßungsfloskel, gefolgt von der Frage, ob die beiden Schwestern nicht am Abend etwas zusammen unternehmen könnten, denn schließlich war heute Freitag.
„Hallo Carlotta, du solltest besser die Handykamera ausschalten, wenn du dich als Constanze ausgeben möchtest …“
Vor Schreck fiel ihr das Gerät aus der Hand. Freddy nahm es an sich und las den Satz ebenfalls. Es dauerte ein wenig bis Carlotta wieder handlungsfähig wurde, doch dann nahm sie die Herausforderung an.
„Wer bist du?!“
Minuten vergingen. Hatte der ominöse Hacker oder wer auch immer es war etwa kalte Füße bekommen?
„Ich bin Carlotta!!!“
Langsam begann das Ganze absurd zu werden. Konnte sich die Person am anderen Ende denn nichts Besseres einfallen lassen?
„Hör sofort auf mit dem Scheiß oder ich gehe zur Polizei!“
„Da dürfte wohl deine Unsichtbarkeit ein wenig von Nachteil sein.“
Wutentbrannt legte sie das Smartphone unsanft auf den Tisch, stand auf und ging nervös in der engen Kammer umher.
„Verdammter Mist!“
Ihr Kopf stieß gegen einen Dachbalken, was punktuell sehr schmerzte. Zeitgleich schien jemand nicht länger auf Carlottas Reaktion warten zu wollen.
„Wie fühlt es sich eigentlich an, nicht mehr wirklich existent zu sein?“
„Was willst du von mir? Geld? Unsere Familie ist alles andere als reich! Dich an mir rächen? Ich wüsste nicht, was ich dir angetan haben sollte, geschweige denn wer du bist!“
Wieder kam die entsprechende Antwort deutlich später.
„Du kennst mich nicht?! Jedes geschriebene Wort von dir ist Teil eines gigantischen Puzzles, ebenso sämtliche Internetseiten, die du in den vergangenen Jahren besucht hast … Ich bin … Deine digitale Identität!“
Zur Verdeutlichung erschienen fein säuberlich ausgewählte Dialogfetzen auf dem Display. Glücksgefühle, Trauer, der erste Schwarm, Hobbies, politische Ansichten, religiöse Orientierung … Das Netz vergaß offensichtlich nichts.
„Liebe Grüße übrigens an Freddy, ganz besonders von seinem Zwilling.“
Dieser „Zwilling“ hatte dann wohl offensichtlich für ihn die Kommunikation in den sozialen Netzwerken übernommen und das bereits seit mehreren Tagen.
„Kommt heute Abend nach Sonnenuntergang zum Umspannwerk, wir möchten euch beiden dort nämlich ein besonderes Angebot unterbreiten.“
Mehrere Fragen folgten als Reaktion, blieben jedoch unbeantwortet. Schließlich gab Carlotta auf, setzte sich wieder zu Freddy und lehnte gedankenversunken ihren Kopf an seine Schulter. Er wiederum legte freundschaftlich den linken Arm um sie, während die gesamte gerade stattgefundene Kommunikation noch einmal von ihm nachgelesen wurde.
Nüchtern betrachtet konnte es sich ja eigentlich nur um eine Erpressung handeln. Entweder die beiden würden sich auf das Angebot einlassen oder alle persönlichen im Internet hinterlassenen Daten wären für jeden beliebigen Nutzer weltweit einsehbar. Von ihm existierte sicherlich eine ähnlich akribische zusammengestellte Sammlung.
Blieb allerdings noch das Geheimnis der Unsichtbarkeit. Ausgerechnet diese Erpresser wussten davon, konnten die beiden aber seltsamerweise via Handykamera sehen.
„Ich will diesem Spuk persönlich ein Ende bereiten!“
Er löste schnell die Umarmung und war beeindruckt, denn Carlotta sah nicht nur sportlich aus, sondern besaß wohl auch einen entsprechenden Ehrgeiz.
„OK, worauf warten wir dann noch?!“
Frühlingsrollen, diverse Fleischsorten, vielfältiges Gemüse … Das Buffet beim Chinesen schien am besten geeignet zu sein, um schlechtes Gewissen und notwendige Nahrungsaufnahme unter einem Hut zu bringen.
Schon seltsam, alle von ihnen berührten Dinge schienen erst einmal sichtbar zu bleiben, da sprachen die verblüfften Reaktionen mehrerer Gäste eine eindeutige Sprache. Kaum verschwanden jedoch diverse Köstlichkeiten im Inneren, verloren sie diesen Zustand, was ausgiebig in der Gegenwart ahnungsloser Probanden getestet wurde.
„Was machst du da?“
Freddy ging mit einer Gabel in der Hand wahllos auf verschiedene Gäste zu.
„Ich hab‘s!“
„Klärst du mich dann bitte auch mal auf?!“
Ihr Gegenüber hatte herausgefunden, dass mit der Zeit alle Objekte unsichtbar wurden, vorausgesetzt, die beiden berührten sie lang genug oder aber der jeweilige Gegenstand befand sich bereits über einem längeren Zeitraum direkt an ihren Körpern. Kleidung, persönliche Gegenstände, wie beispielsweise Carlottas Handtasche, sogar das Geld in ihren Portemonnaies waren dementsprechend erst einmal unsichtbar. Wurden diese Dinge jedoch wieder abgelegt und hatten einige Zeit keinen Körperkontakt mehr, kehrte deren optische Wahrnehmbarkeit wieder zurück.
An diesem spätsommerlichen Septemberabend ging die Sonne exakt um 20:00 Uhr unter. Der Weg in Richtung Umspannwerk wurde ohne Verkehrsmittel bewältigt. Es verstrichen dadurch bedingt anderthalb Stunden, versüßt durch angenehm gehaltvolle Gespräche.
„Natürlich eingezäunt und überall Kameras.“
„Ist doch völlig egal oder?!“
Beide lachten lauthals, denn hören konnte man sie ja bekanntlich ebenfalls nicht. Freddy half ihr über den circa drei Meter hohen Maschendraht, der glücklicherweise nicht mit stacheligen Metallfäden am oberen Ende versehen war. Stabil stehende Strommasten, daran befestigt die entsprechenden Hochspannungsleitungen. Transistoren, überall lautes Surren, strotzend vor Energie.
Ein beachtliches Gelände tat sich vor den Eindringlingen auf. Gut zwanzig Minuten konnten sie sich unbemerkt umschauen, dann erst