Identität - Page 6

Bild von Maik Kühn
Bibliothek

Seiten

Allerdings ließ der nervige Mitschüler endlich von ihm ab, da eine elektronische Nachricht einging, mit deren Inhalt er offensichtlich nicht rechnen konnte.
„Hey Marvin, alles OK mit dir?“
„Sie hat mit mir Schluss gemacht! Einfach so …“
Peinlich berührt und fasziniert zugleich, nutzte Freddy die Chance des Augenblicks.
„Alter, das tut mir echt leid. Ich lass dich besser mal allein …“
Eilig wurde der Jugendliche mit dem soeben gebrochenen Herzen sich selbst überlassen.
Wahnsinn! War diese Textnachricht wirklich von ihm geschrieben worden? Konnte er etwa wie ein Geist in technische Geräte eindringen, die mit dem Internet verbunden waren? Oder half ihm einfach nur das Schicksal? Immerhin hatte ihm ja sein digitaler Zwilling versprochen, Welten kennenzulernen, die ihm zuvor verwehrt blieben …
Neugierig betrat Freddy kurz darauf ein Geschäft, suchte sich dort die teuerste Jeanshose aus und ging damit zur Kasse. Vom Verkäufer unbemerkt, verschwand sein Schülerticket in dem Kartenleser und wurde anstandslos als Scheckkarte mit ausreichender Deckung akzeptiert. Wieder hatte er im Anschluss das Gefühl, manipulierend in dem Gerät drin gewesen zu sein.
Es wurde prompt der nächste Laden angesteuert, bereit, einen weiteren Betrug zu begehen. Dieses Mal zeigte Freddy mit einem gewissen Selbstverständnis sein Schülerticket vor, was nach erfolgreicher Kaufabwinklung, trotz anfänglicher Skepsis, niemand hinterfragte.
Voll bepackt betrat dann Freddy am späten Samstagnachmittag seine Wohnung, nahm dort auf dem Sofa Platz und genoss sichtlich seine übersinnliche Gabe. Allerdings schlich sich auch ein wenig Unbehagen ein, denn er hatte Carlotta am gestrigen Abend schließlich allein zurückgelassen. Und überhaupt, sie fehlte ihm, obwohl man sich erst seit einem Tag persönlich kannte.

Gab es da etwa einen heimlichen Freund? Immer nur häppchenweise kamen die neuesten Wasserstandsmeldungen per Textnachrichten herein. OK, ihre ältere Schwester war mittlerweile volljährig, aber …
Warum nur konnten sie denn nicht einfach mal kurz miteinander telefonieren? Erst übernachtete Carlotta angeblich bei einer Freundin namens Susi, die laut Constanzes Recherchen aber nichts davon gewusst haben will. Dann kommt im Zuge dieser Nachforschungen ebenfalls heraus, dass ihr liebes Schwesterlein gestern gar nicht in der Schule gesehen worden ist …
Immerhin war Constanze wieder handlungsfähig, denn am Vortag verschwand aus bis dato unerklärlichen Gründen ihr Smartphone. Das gesamte Haus wurde durchkämmt, leider ohne Erfolg. Heute Morgen dann, lag es wieder auf dem Nachttisch als ob nichts geschehen wäre. Beide Elternteile beteuerten nichts dergleichen getan zu haben. Wer es glaubt wird selig … Natürlich ging die Jugendliche ständig online, aber solch miese Methoden hatte man ihr gegenüber noch nie angewandt …
Heimlich schlich sich das fünfzehnjährige Mädchen aus dem Haus, denn obwohl sie nicht den Folgen von Überbehütung ausgesetzt war, durfte an einem Samstagabend wie heute keinesfalls mehr um diese Zeit allein ausgegangen werden.
Warum nur besuchten sie nicht dieselbe Schule? Bereits gestern wäre wahrscheinlich das Lügengerüst ihrer Schwester in sich zusammengebrochen. Von den üblichen Zickereien einmal abgesehen, verstanden sich die beiden Geschwister nämlich wirklich gut. Carlotta diente sogar als Vorbild, allerdings nicht in allen lebensrelevanten Bereichen. Was die ältere Schwester sich im Laufe der Jahre erkämpfte, musste zudem nicht von ihr erneut mit den Eltern ausgefochten werden.
Nervös spielte Constanze mit einer langen Haarsträhne. Wie ein Engel oder zumindest aus Schweden stammend, waren gewöhnlich die ersten Gedanken Außenstehender, hervorgerufen durch ihre üppige bis zur Taille reichende Pracht im hellsten Blond. Der goldene Ehering ihrer bereits verstorbenen Oma gab dem Ganzen eine zusätzliche Note, getragen als intimes Andenken am Mittelfinger der linken Hand.
Ausgerechnet auf dem verwaisten Parkplatz eines Supermarktes sollte dieses ungewöhnliche Treffen um punkt 23:00 Uhr stattfinden. Hastig bestätigte sie per Smartphone die pünktliche Ankunft am verabredeten Ort. Nur Sekunden später bog ein Lieferwagen auf das Gelände, der am Heck mit fensterlosen Türen versehen war. Da Carlotta keinen Führerschein besaß, kamen da gerade wohl mindestens zwei Personen angefahren. Ein paar Meter entfernt blieb das Fahrzeug stehen und schaltete die Beleuchtung aus.
„Los, komm her!“
In diesem Moment hielt leichte Verwirrung bei Constanze Einzug.
„Warum kommunizierte man mit ihr per Textnachricht und nicht persönlich?“
Vorsichtig verstaute sie das Smartphone in der kleinen Handtasche. Schritt für Schritt wurde sich dem Lieferwagen von hinten genähert und mit jedem Zentimeter schlug ihr Herz schneller. Kurz vor dem Ziel vibrierte es dann aus nächster Nähe. Constanze blieb stehen, kramte nach der verursachenden Technik und bemerkte nicht, wie sich zeitgleich die Fahrertür öffnete.
Plötzlich stand ein junger Mann vor ihr.
„Keine Angst!“
„Wer bist du?! Wo ist Carlotta?!“
Statt zu antworten, führte er sie schweigend zum Heck des Lieferwagens.
„Deine Schwester möchte nicht den Weg zu ihrem Versteck preisgeben.“
„Welches Versteck?“
„Steig ein oder ich fahre ohne dich los!“
Mit gemischten Gefühlen stieg das Mädchen durch die zuvor geöffnete rechte Türe in den Laderaum, der fast völlig leer war. Lediglich an der Wand in Richtung Fahrerkabine stand ein gut befestigter Stuhl.
„Nimm Platz und außerdem hätte ich gerne dein Handy.“
Gerade in dem Moment als Constanze weglaufen wollte, packte er sie schmerzhaft am Arm, nahm ihr das Smartphone ab und zerrte sein mittlerweile schreiendes Opfer in den Wagen hinein.
„Dich hört hier eh niemand, also spar dir lieber das Gekreische!“
Kraftvoll legte sich ein Gurt über ihren Bauch, gefolgt von absoluter Dunkelheit. Tränen kullerten über beide Wangen, einhergehend mit panischer Angst.

Die Nacht zum Samstag verbrachte Carlotta schlaflos im eigenen Bett. Völlig verwirrt von den Ereignissen im Umspannwerk, hatte sie noch am späten Freitagabend ihrer bereits schlafenden Schwester das Smartphone zurückgegeben und an diesem Samstagmorgen Constanzes entsprechende Reaktion genossen, die mit gleichzeitiger Verwunderung einherging.
Direkt nach dem Frühstück, es wurde sich einfach unbemerkt am Kühlschrank bedient, ging es noch einmal zurück zum Umspannwerk. Gegen Mittag stand Carlotta dann bei Freddy vor der Tür, doch niemand öffnete ihr.
Ohne entsprechende Technik war dieser Kampf wohl doch nicht zu gewinnen, weshalb sie in einem Fachgeschäft widerwillig zur Diebin wurde, mit dem ungehörten Versprechen, das gestohlene Gut bei Zeiten wieder zurückzubringen.
Mehrere Male versuchte Carlotta über neu angelegte Nutzerkonten ihren digitalen Zwilling zu erreichen, doch es gab keinerlei Resonanz. Nach ziellosem Umherirren betrat sie dann am Abend völlig resigniert das Haus, doch niemand schien sich hier wirklich über ihre mittlerweile zweitägige Abwesenheit zu wundern.
Gegen 22:30 Uhr dann, schlich sich Constanze leise davon.
„Hey Mädel, du willst doch nicht etwa heimlich Party machen?“
Eilig lief Carlotta hinter ihr her, bis die

Seiten

Interne Verweise