Blindheit

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von Anita Zöhrer

Zusammen mit meinem Meister verteidigte ich unsere Stadt gegen fremde Mächte, die unseren König stürzen wollten. Wir beide zählten zu seinen treuesten Untergebenen und genossen dementsprechendes Ansehen bei seinem Volk. Wenn wir auf unseren Pferden durch die Straßen ritten, verneigten sich die Menschen vor uns, und wenn uns etwas gefiel oder wir Dinge haben wollten, bekamen wir es von ihnen geschenkt.

Spät an einem Nachmittag färbte sich der Himmel plötzlich feuerrot und Drachen fielen über unsere Heimat her. Sogleich nahmen mein Meister und ich den Kampf mit ihnen auf und metzelten einen nach dem anderen nieder.
Das Töten verstörte mich schon lange nicht mehr. Viel mehr war es eine von meinen liebsten Beschäftigungen geworden. Je mehr Opfer ich in einer Schlacht verzeichnete, desto mehr Lob erhielt ich von unserem König. Dies war mein größter Ansporn, Blut fließen zu lassen. Auch mein Meister war nur dann stolz auf mich, wenn ich ihn übertrumpfte. Umso mehr gab ich mein Bestes, um ihn nicht zu enttäuschen.

Ein Drache nach dem anderen fiel auf die Erde nieder und hauchte sein Leben aus. Unter dem Jubel meines Meisters rammte ich auch dem letzten Drachen mein Schwert in die Brust und machte ihm damit den Garaus. Ein lautes Donnern erklang, als er gegen den Boden prallte, und ein heftiges Beben folgte darauf. Ich hatte den Anführer der Drachen erlegt. Die Drachen lösten sich in Luft auf und der Himmel färbte sich wieder blau.

Zahlreiche Menschen waren bei dem Angriff ums Leben gekommen, doch meinen Meister und mich kümmerte das nicht. Früher oder später mussten wir ja ohnehin alle sterben, so hatte es mich mein Meister gelehrt. Anstatt sie zu betrauern und uns um ihre Angehörigen zu sorgen, ließen wir uns in einem Wirtshaus von einer Horde Männer feiern. Die Musiker stimmten eine Hymne auf uns an und wir betranken uns, doch plötzlich entdeckte ich durch das Fenster jemanden auf der Straße, der meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war ein schwarz gekleideter Mann, der neben der Leiche einer Frau kniete. Er hob seinen Blick zu mir und ich lief nach draußen. Der Mann stand auf und ich fiel über ihn her. Dieser Tag war wohl mein Glückstag. Erst hatte ich das Oberhaupt der Drachen zur Strecke gebracht und nun machte ich den Fang meines Lebens.

Damit der Mann nicht fliehen konnte, legte ich ihm magische Ketten an, und brachte ihn ins Verließ, wo alle Häftlinge ihre übernatürlichen Kräfte verloren.
Oft hatte ich mir vorgestellt, was ich alles mit ihm anstellen würde, wenn ich ihn in die Finger bekäme, und nun konnte ich mich endlich an ihm austoben. Ich trat und schlug ihn, beschimpfte ihn. Wollte ihm die grausamsten Qualen zufügen aus Rache, dass er mir als Kind meine Eltern geraubt hatte.
„Hör auf!“
Ausgerechnet mein Meister war es, der dazwischenging und mich von dem Mann wegzerrte.
„Lass mich!“
„Da stimmt was nicht, er hat sich viel zu einfach von dir fangen lassen.“
„Du bist doch nur neidisch, weil ich ihn gefasst hab und nicht du.“
Mein Meister packte mich an den Haaren und zwang mich in die Knie.
„Spricht man so mit seinem Meister?“
„Es tut mir leid.“
Demütig verneigte ich mich vor ihm und verharrte auch dann noch in dieser Stellung, als er sich zu dem Mann begab.
„Was willst du hier, Tod?“, fragte er ihn, doch der Mann schwieg.
„Sprich!“, schrie er ihn an und versetzte ihm einen Tritt in die Seite.
„In meiner Jackentasche.“
Mein Meister zog sein Messer und hielt es dem Mann an die Kehle, während er vorsichtig nachsah, was sich in dessen Jackentasche befand. Ich war erstaunt, als er eine Halskette mit einem Anhänger in der Form eines Herzens hervorholte.
Zornig warf mein Meister die Kette in meine Richtung und verschwand mit der Drohung, schon noch aus ihm herauszubekommen, was er wirklich im Schilde führte.
Ich griff nach der Kette und öffnete das goldene Herz. Nur zu vertraut erschien es mir. Ich brach in Tränen aus. Ein Bild meiner Eltern verbarg sich in dem Medaillon. Meine Mutter hatte sie mir kurz vor ihrem Tode geschenkt – eine der wenigen Erinnerungen, die ich noch an sie hatte.
„Deine Eltern haben mich zu dir geschickt. Sie machen sich Sorgen um dich. Der König ist kein guter Umgang für dich.“
„Du lügst.“
„Sie starben durch seine Hand.“
„Nein, das kann nicht sein!“
„Wenn du das nächste Mal durch die Stadt reitest, sieh dir die Menschen einmal genauer an. Dann sage mir, dass dein König kein Tyrann ist.“
Ich zog mein Schwert und setzte den Verräter mit einem Energiestrahl außer Gefecht, wollte nichts mehr von seinem Gerede hören. Meinem König und meinem Meister gebührte meine ganze Loyalität und darum galten jegliche Attacken gegen sie auch mir.

Ich wollte es nicht, doch ich konnte nicht anders. Zu tief hatte mich die Aufforderung des Todes getroffen, die Menschen in dieser Stadt näher zu betrachten. So ritt ich durch die Straßen und erkannte plötzlich Leid, das mir noch nie zuvor aufgefallen war.
Männer, Frauen und sogar Kinder lebten ohne ein Obdach, hatten kaum zu essen und waren krank, ohne dass sie jemals ein Arzt behandeln würde. Soldaten des Königs beraubten Händler und schikanierten die Menschen. Völlig grundlos schlugen sie Männer zusammen und bedrängten deren Frauen; selbst Kinder misshandelten sie.
Wut stieg in mir hoch. Wie hatte ich nur so blind sein können? Allen voran gab ich meinem Meister die Schuld daran. Wer hatte mich denn erzogen und meine Überzeugen geprägt?

Noch am selben Abend rief mich unser König zu sich und überreichte mir einen magischen Stein. Mir wollte er die Ehre zuteilwerden lassen, den Tod zu vernichten. Eine höhere Auszeichnung hätte er mir gar nicht zukommen können, doch trotzdem konnte ich mich nicht darüber freuen. Nicht, nachdem sich der Schleier über meinem Herzen gelichtet hatte.

Als der König und ich zu dem Gefangenen kamen, hatte mein Meister ihn schon halb toteprügelt. Eine große Blutlacke besudelte den Boden. Dass der Tod überhaupt noch lebte, grenzte an ein Wunder. Ich stellte mich neben ihn, sah ihm tief in die Augen, erstarrte vor Schreck. Bilder vom Sterben meiner Eltern liefen darin ab. Nun erinnerte ich mich wieder. An den Überfall, an meine Entführung. Tatsächlich war der König selbst es gewesen, der meine Eltern hingerichtet hatte, und mein Meister, der mich verschleppt hatte.
Viel zu lange schon hatte ich mich von den beiden ausnutzen lassen, doch damit war es nun vorbei. Jetzt war es an der Zeit, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen und zu tun, was ich für richtig hielt, und nicht, was die beiden für mich entschieden.

Der Tod hatte mir Einsicht geschenkt. Zum Dank schenkte ich ihm nun die Freiheit. Ich schleuderte den Stein gegen die Wand, woraufhin dieser in tausend Stücke zersplitterte. Gleißendes Licht hüllte uns ein. Ich nützte die Chance, die Fesseln des Todes zu lösen und ihn an einen Fluss zu bringen, in dem verzaubertes Wasser floss.
Ich legte den Tod ans Ufer und streckte meine Hände in Richtung des Flusses. Wasser stieg empor und die Gestalt einer Frau kam zum Vorschein.
„Bitte hilf ihm!“, flehte ich sie an und zeigte auf meinen Freund.
Erschrocken wich die Frau zurück und begann, vor Angst zu zittern.
„Die Geschichten über ihn sind erlogen. Er ist nicht böse. Er ist der beste Freund, den ich jemals hatte!“
Die Frau blickte mich an und ich nickte. Tränen liefen mir übers Gesicht. Ich hätte es nie für möglich gehalten, jemals jemanden so sehr ins Herz zu schließen, und erst recht nicht den Tod. Aber es war passiert und es war gut so.
Langsam näherte sich die Frau dem Mann und betrachtete ihn.
„Sein Herz wird aufhören zu schlagen und er wird dorthin zurückkehren, wo er hergekommen ist. Es tut mir leid, es ist seine Bestimmung. Ich kann es nicht ändern.“
Ihre Worte durchbohrten meine Seele wie ein scharfes Messer. Nur drei Menschen hatte ich bisher in meinem Leben wirklich lieben gelernt und nachdem meine Eltern mich schon vor langer Zeit verlassen mussten, war nun auch bald der Tod gezwungen, zu gehen – ich konnte den Gedanken kaum ertragen.
Die Frau zog sich ins Wasser zurück und ich beweinte den Mann.
Noch ein letztes Mal leuchteten seine Augen auf, ehe er sie schloss und sich allmählich in Luft auflöste. Ich schrie vor Schmerz, Verzweiflung und Wut und begab mich in die Stadt zurück. Nichts außer Rache hatte ich mehr im Sinne, wollte meinem Meister und unserem König all das vergelten, was sie mir und meinen Lieben angetan hatten.

Meine Fäuste brannten und ein heftiger Sturm umwehte mich. Ich rannte auf die Burg des Königs zu und brachte sie mit einem kräftigen Windstoß zum Einstürzen. Soldaten eilten auf mich zu. Mit dem Sturm fegte ich sie davon wie Blätter im Wind. Der König und der Meister befreiten sich aus den Trümmern und attackierten mich mit den Energiestrahlen ihrer Schwerter. Mit Feuerbällen setzte ich mich zur Wehr und zauberte die Schwerter in meine Gewalt. Bevor sie merkten, wie ihnen geschah, ließ ich sie die Energiestrahlen am eigenen Leibe erfahren und peinigte sie so lange, bis sie beide starben. Ich warf die Schwerter weg und fiel erschöpft auf die Bruchstücke unter mir. Nie wieder wollte ich von da an jemanden töten, das schwor ich mir.

Nachdem ich dafür gesorgt hatte, dass aus dem Volk ein neuer Anführer ernannt worden war, der die Not der Menschen nicht ignorierte, sondern sich darum bemühte, sie zu lindern, verließ ich die Stadt. Ich konnte nicht länger bleiben, viel zu sehr bedrückten mich die Erinnerungen an eine Vergangenheit, die nicht grausamer sein hätte können. Ich wollte mich ändern, wollte ein besserer Mensch werden. Hoffte außerdem, dass ich ihn irgendwo irgendwann wieder treffen würde: meinen Freund, den Tod.

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