79. Schritt
Daß ich heute, bei Durchsicht der Akten, durchsichtig geworden bin, wollte ich zunächst gar nicht glauben, doch siehe da: es waren keinerlei Hinweise auf eine Existenz meinerseits darin zu finden. Ich las nur was vom Ersten und Zweiten Weltkrieg, von der Völkerwanderung, vom Hunnensturm, von der Industrialisierung, von der Hochzeit von Elisabeth der 2., von noch vielerlei ähnlichem Quatsch. Was hatte das zu bedeuten?
Verzeichnet waren auch die Eskapaden der Stars und Sternchen, von den Blödheiten von Hinz und Kunz in Schilda und anderswo. Streiche über Streiche, Humoristisch und traurig, lachhaft oder zum Heulen. Von Menschen die tatsächlich mit beiden Beinen im Leben standen habe ich nichts gesehen. Außer man bezeichnet den blinden Wahn als das Leben und seine beiden Beine als Krücken im Sein.
Alle waren sie, die Menschen, irgendwie anders gewesen, als ich mir das einmal, in meinem kindlichen Leichtsinn, vorgestellt hatte: sie waren irgendwie unbewusst. Wenn ich mich dazu im Vergleich betrachte, dann muss ich sagen: „Wo bist du?“ Mit meinem Instinkt kann ich nichts erkennen! Mein Körper – der Beweis meiner Existenz – dient keinen äußeren Zielen, er umhüllt nur ein waberndes Flammenmeer aus Hunger und Durst. Nicht nach Schwarz- oder Weißwürsten, nicht nach Tofu und Tomatensaft, sondern nach dir und mir.
Doch hier, an dieser Stelle die Frage noch einmal an alle: „Wo bist du?“ Wenn ich ganz akribisch genau hinschaue, sehe ich etwas vor mir herumtanzen, eine fleischliche Hülle nach der anderen. Wenn ich sie „öffne“ (hinterfrage) erhalte ich keine Antwort. Es kommt entweder nur mein Echo zurück, sobald ich etwas hineinrufe, oder das Echo anderer, die wiederum nur durch die Echos weiterer anderer zurückgeworfen werden. Das geht so bis zum Einzeller!
Da läuft doch ein Film ab, denke ich mir. Dann suche ich den Projektor, das Holodeck, stoße aber fortgesetzt auf die Zeit. Und was steckt hinter der Zeit? Die Entblößung der Wahrheit? Die Nacktheit der Absichten? Das einzig-erreichbare wirkliche Leben, wenn man erst einmal seine materielle Verkörperung durchlaufen hat? Oder nur eine ewige Folge von Wiedergeburten, deren Sinn es ist die Seele zu läutern, damit sie eines Tages ins Nirgendwo-Garnichtda- Überhauptsnix eingehen darf? Ob ich da dann gern eingehe, nachdem ich vorher schon eine Million mal eingegangen bin weiß ich auch nicht. Ich denke eher nicht!
Das hätte ich wohl schon längst tun sollen: eher nicht denken! Genügt es nicht eine Hülle unter Hüllen zu sein? Durchsichtig sein unter Sichtbaren ist aber auch nicht das Wahre! Was aber ist das Wahre? Ist es hüllenhaft-sichtbar oder durchsichtig-vorhanden? Sollte die Wahrheit aus einer Kulisse für das Schauspiel „Universum“ bestehen, dann ist die Hülle (die Rolle) das einzig Wahre. Dann gibt es nur Schauspieler und kein Publikum! Sollten jedoch die Wenigen, die vielleicht Publikum sind oder sein könnten, wirklich vorhanden sein, dann sind sie aus der Sicht der Schauspieler durchsichtig – oder im Dunkel des Zuschauerraumes verborgen = nicht anwesend. Das heißt, sie sind für das Stück nicht, sondern nur für sich selbst von Belang!
Das Stück aber, dessen Protagonisten ihm Fülle verleihen, ist notwendig! Das jedenfalls behaupten die hüllenhaften Beteiligten, die zwar sterben wie die Fliegen, aber nichts anderes kennen, als wie die Fliegen zu sterben. Auch die Zuschauer sterben – in sich hinein, aus sich heraus, vor sich her, aber es gelingt ihnen nicht wahrgenommen zu werden, egal was sie tun. Sie dürfen Beifall klatschen, während der Verbeugungen, sie dürfen pfeifen, mit imaginären Eiern werfen, aber sie dürfen nicht wirklich mitspielen. Sie sind durchsichtig! Sie haben keine eigene Identität, da ihre Identität quasi „bloß“ innerlich ist.
Die äußerlichen Identitäten bestimmen jedoch das Spiel, während dieses wiederum vom Wahnsinn bestimmt wird, von jenem Wahnsinn, der nachlesbar ist, in den Akten der Zeit. Wer durchsichtig ist, besitzt sozusagen einen Avatar, ein Schein-Äußeres, das nicht dem Inneren entspricht und somit angezweifelt werden darf/muss. Schließlich kann er durch nichts seine äußere Existenz belegen. Er denkt nicht wie „man“ denkt, er handelt nicht wie „man“ handelt – er steht nicht zu seinem Handeln und Denken, wie „man“ dazu zu stehen hat, ja er kann nicht einmal vorlügen: „Ich-bin-gar-nicht-der-den-du-in-mir-siehst“ (ein Mörder z.B. oder ein Altruist). Weil er ganz einfach keiner wahrnehmbaren Rolle gerecht wird.
Er ist durchsichtig und nichts wird ihn sichtbar machen – es sei denn, er brächte sich um die Ecke, dann müsste man etwas zu Grabe tragen was man zeitlebens nicht registriert hat. Dann wäre er für einige unwesentliche Augenblicke sichtbar geworden, durch seine nutzlos gewordene Hülle. Sollte man sich jetzt eigentlich fragen, ob das bei jedem so ist? Auf die Länge der Frist kommt es doch gar nicht an – oder? Blaukraut bleibt eben Blaukraut und Brautkleid bleibt Brautkleid…
©Alf Glocker
Kommentare
Das erinnert mich an ein skurril wirkendes Geschehen: Nach dem Tod meines Mannes war ich kummervoll in Kur. Eines Morgens war das Haus erfüllt von betroffenem Gesumm. Es stellte sich heraus, dass Lady gestorben war - und die Klinik-Welt schien sich langsamer zu drehen. Dass MEIN MANN gestorben war, hatte nur mich berührt ...