Ich kannte Rosi praktisch schon vom Sandkasten her. Sie war ein freches, sehr selbstbewusstes Kind, aber immer ebenso fair wie zielstrebig. Als wir so langsam erwachsen wurden, grüßten wir uns nur noch über die Straße, aber im Prinzip hatten wir uns aus den Augen verloren, da wir sehr unterschiedliche Wege gingen.
Während ich weitestgehend isoliert aufwuchs und auch als Jugendlicher nahezu keine Kontakte hatte, spielte Rosi in einer Musikgruppe, sie hatte Sex und sie machte schließlich Karriere in einem Supermarkt, wo sie es später bis zur Filialleiterin brachte. Weil ich nach 25 Jahren wieder in die Gegend zog und dort einkaufte sahen wir uns gelegentlich. Dabei kam es zu sehr lustigen Gesprächen. Sie war stets zum Scherzen aufgelegt. Inzwischen war sie auch längst verheiratet, mit Hartmut, einem netten Mann aus Österreich, den sie, wie alles andere, voll im Griff hatte.
Längst war sie in ein eigenes Haus gezogen, wo sie mit ihrer Familie lebte, ihre Tochter großzog und es sich ansonsten gut gehen ließ. Dann – endlich, nach einem unglaublich agilen Arbeitsleben, kam sie in Rente. Und von nun an traf ich sie wieder öfter, wenn sie spazieren ging, denn ich hatte inzwischen ein Domizil am Stadtrand bezogen und ihr Weg in die freie Natur führte sozusagen fast bei mir vorbei.
Wieder lachten wir viel miteinander und sie erzählte mir, recht freimütig von ihrer Lebensphilosophie. „Weißt du“, sagte sie schelmisch zu mir, „ich bin eine Hexe, mir kann nichts passieren, weil ich gut drauf bin und überall nur das Gute sehe – und weil ich auch nichts anderes in meiner Umgebung dulde. Das macht viel aus: ich bleibe gesund und rüstig. So bin ich nun mal“.
Ab diesem Zeitpunkt fing ich an, mir ernste Sorgen zu machen! Warum erzählte sie mir das jedes Mal – war sie sich ihrer Sache so sicher? Zugegeben, sie wusste alles zu meistern, was das Leben ihr bot, sie führte überall eine glückliche Hand. Da war sie völlig anders als ich. Aber, konnte sie das schon als eine handfeste Garantie auslegen? Ich meinte nein. Nicht zuletzt deshalb hoffte ich für sie, sie möge einmal einem kleinen Problem begegnen, nur einem kleinen, das sie jedoch nicht würde meistern können, damit sie zu einer klügeren Lebenseinstellung fände.
Das musste der Teufel persönlich gehört haben, denn bald wurde Rosi sehr krank! Sie wurde erfolgreich operiert, aber der Teufel ließ es dabei nicht bewenden, denn gerade als sie sich wieder – wie sie glaubte –beinahe gänzlich erholt hatte, schlug er ein zweites Mal zu und diesmal handelte es sich um das Todesurteil…
Die nun folgende Operation konnte nichts mehr an diesem Urteil ändern; Rosi kam in den „Todestrakt“! Schweren Herzens besuchte ich sie, da mir zu Ohren gekommen war, daß sie das wollte. Aus eigenem Antrieb hätte ich es nicht über’s Herz gebracht, mit ansehen zu müssen, wie diese derart starke Frau stirbt. Wir unterhielten uns nicht mehr so lustig wie früher, sondern ernst. Sie erzählte mir von ihrem brutalen Leiden gefasst. Und sie machte auch deutlich, daß es keinen Sinn mehr für sie habe zu hoffen. Sie wolle nur noch bald, ohne noch längeres Siechtum, einfach sterben.
In der Folgezeit wurde Rosi immer schwächer. Wir telefonierten noch ein paarmal miteinander „nett“ zusammen, denn sehen wollte sie keinen mehr. „Den Anblick möchte ich keinem zumuten“ sagte sie trocken.
So ging das noch eine ganze Weile und ich zweifelte schon an meinem Verstand, als ich hörte sie lebe immer noch, so stark war sie – dann träumte ich eines Nachts, ich hätte sie in einer grauen Welt getroffen, in der man nicht atmen muss um zu sein. Am nächsten Morgen kam die Nachricht, daß sie gestorben sei!
Etwas kam auf mich zu, das ich alles andere als sehr liebe: eine Beerdigung. Am liebsten wäre ich desertiert, aber jetzt erfuhr ich, zu allem Überfluss, daß Rosi vor langer Zeit auch noch in mich verliebt gewesen war – also schleppte ich mich hin!
Zu dem was nun folgte muss ich etwas vorausschicken – ich unterhalte mich öfter mal mit Verstorbenen. Das ist so eine zweifelhafte Angewohnheit von mir, im Rahmen meiner allseits anerkannten, geistigen Umnachtung, die ich offenbar nicht ablegen kann. Auch Rosi erschien mir oft und wir „plauderten“ wie einst, als wir Kinder waren, angeregt. Diesmal aber verstand ich nicht alle Worte, die von ihr zu mir herüber wehten. Den größten Teil, der hier unwichtigen Konversation lasse ich auch am besten weg. Etwas davon aber möchte ich trotzdem erwähnen – unser Abkommen!
Ich schlug ihr vor, bei der Beerdigung ihr Sprachrohr gegenüber ihren Hinterbliebenen zu sein. Wenn sie wolle, dann könne sie durch mich, ihnen mitteilen was ihr gerade einfiel.
Das hätte ich besser nicht tun sollen, denn ich hatte darin ja gar keine Übung. Diese Form von Medium spielen, am hellen Tage, war völlig neu für mich. Und die Zahl der Zuschauer war dazu noch entschieden zu groß!
Schon als ich mich der Aussegnungshalle näherte, erfasste mich ein eigenartiger Zauber, der sich im Inneren des wunderschönen Jugendstilgebäudes noch verstärkte. Unsicher bezog ich, zusammen mit meiner Frau, einen Sitzplatz, unter Freunden, Bekannten und Angehörigen. Dann hörte ich mir das Gewäsch des Geistlichen an. Wie oft hatte ich diesen Quatsch eigentlich schon gehört?! Immer weiter kehrte ich mich nach innen. Dann entdeckte ich, inmitten von Blumengebinden, auf einer kleinen Säule die Urne, in der sich Rosis Asche befand. Zu dem Lied „Du bist so weit, weit weg von mir…“ das sie sich gewünscht hatte erhoben sich alle, und auf einmal war die Urne von einem goldenen Schein umhüllt.
Dünner, sehr transparenter Rauch stieg auf und aus dem Rauch hörte ich ihre Stimme: „Komm, wir tanzen eine Runde!“ Ich ging zwar nicht hinaus auf den Platz zwischen dem Pult des Geistlichen und dem Halbkreis der Sitzplätze der Trauergemeinde, aber ich fing auf einmal an, mich im Takt der Musik zu wiegen – bis mich meine Frau unsanft in die Seite stieß und mich anherrschte: „Dies ist eine Beerdigung! Vergiss das nicht!“ Erschrocken erwachte ich aus meiner kleinen Trance und der goldene Schein erlosch. Der Rauch zog sich wieder in den Berg aus Blumen zurück, aus dem er gekommen war.
Das war wieder typisch ich, hielt ich mir vor, nichtwissend, daß das Schlimmste erst noch kommen sollte… Vor dem offenen Grab hatten sich ca. 200 Leute versammelt. Davor standen die Angehörigen, denen man kondolieren sollte. Ich wartete ein wenig, dann trieb mich etwas genau dorthin. Zielsicher ging ich auf Rosis Schwester Conny zu und ich strahlte sie geradezu an. Ich öffnete den Mund und heraus kam: „Meine Güte, das war ein Gfrett“ (Mundartlich für Theater). Den Umstehenden blieb das Wort im Hals stecken. Und als ich dann auch noch auf Rosis Bruder Schorschel zuging und rief: „Ja, hallo, schön dich zu sehen!“, da wäre ich am liebsten im Boden versunken.
Ich weiß natürlich nicht genau, ob das Rosi war, die mich da geradezu verhext gehabt hatte, ich weiß nur, daß ich noch lange über den Blödsinn nachdenken musste, den ich da von mir gegeben hatte. Und ich bin heilfroh, bisher noch keinen ihrer Angehörigen getroffen zu haben, denn ich wüsste nicht, was ich zu meiner Entschuldigung sagen könnte. Am besten sage ich einfach zu mir selber: „Du bist halt sehr oft ein Riesendepp! Schade, daß es dir einfach nicht gelingt, dich in Situationen, die Ernst und Anstand erfordern, zusammenzunehmen. Kein Wunder, daß man dich für untragbar hält!“
Kommentare
Bleib', wer du bist ...
Ob das beim Schreiben auch passiert?
(DeIn(?) Text ist aber sehr VERSiert!)
LG Axel
ich bleibe weil ich muss
und: ja! auch beim Schreiben...
LG Alf
Schon wieder!
Lies MAL richtig!
Du sollst bleiben, WER du bist!
dann vollständig: Ich bleibe wer ich bin, weil ich das so muss!