Ein nicht für möglich gehaltenes Geschenk

Bild von Willi Grigor
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Ist es vielleicht so geregelt, dass erst die Mischung von guten und bösen Zeiten dem Leben einen Sinn geben?

Im Laufe der Jahre hat das Leben mir einige kräftige Ohrfeigen gegeben. Ich weiß nicht warum, es hatte sicher seine Gründe.
Im Laufe dieser Jahre gab es mir aber auch angenehme Streicheleinheiten und unerhoffte, großartige Geschenke.
In der folgenden Erzählung will ich diese beiden Gegensätze zusammenbringen:

Bis zum Ende meiner 30er Jahre war ich eigentlich immer gut drauf. Ich war zwar kein Sportler, aber doch einer, der sich gerne und oft im Freien bewegte. Bei meinem 40sten Geburtstag sagte ich, nicht unbedingt spaßig gemeint: "Alt zu werden macht keinen Spaß."
Aber ich glaube im Nachhinein, dass da was dran war. Vielleicht war es die Arbeit, die Überstunden und die 30 km hin und zurück, die Arbeit am Haus, im Garten. Spielen mit den Kindern war eine Seltenheit. Als ich auf die 50 zuging war da immer wieder ein Drücken im Magen. Zum Arzt wollte ich nicht. Dazu war ich noch zu jung, meinte ich.
Ein paar Jahre später war ich alt genug. Aber ich ging nicht zum Arzt - man fuhr mich hin, mit dem Krankenwagen. Blutendes Magengeschwür, 5 Tage Intensivstation, zwei Monate krankgeschrieben.

Bald danach Umzug, neuer Arbeitsplatz, Außeneinsätze, nur am Wochenende zu Hause. Die Familie bedeutete mir alles. Ich wagte einen Entschluss: eigene Einmann-Firma im Anlagenbau. Das Häuschen im Garten wurde ein Büro mit zwei Zeichenbrettern.
Es begann gut, bekam einen Konstruktionsauftrag für ein Jahr. Das Leben wurde ruhiger, die Arbeitszeiten länger und der Erlös am Ende des Monats besser.

Aber 1990 legte sich eine schwere Finanzkrise über das Land. Freischaffende wie ich bekamen eine staatliche Unterstützung nur, wenn die Firma komplett aufgelöst wurde, was ich aber nicht wollte - ich hoffte auf ein schnelles Ende der Krise. Statt dessen überrannte mich zusätzlich eine private Krise, ein körperlicher Zusammenbruch, der nicht so lange dauerte, aber Folgen hatte für mich. Der Grund meines nur Tage dauernden Unwohlseins konnte nie eindeutig ermittelt werden. Dennoch fühlte sich ein Arzt gezwungen, diese Episode dem Luftfahrtsamt mitzuteilen. Ich verlor meinen Segelflugschein. Die Überwindung dieses Schocks dauerte ungefähr so lange wie die Finanzkrise, mehrere Jahre, bis 1994.

Zu überleben als Selbstständiger war eine Kunst in dieser Zeit.
Der Staat bezahlte mir immerhin eine sechsmonatige Ausbildung für das Programm AutoCad. Und etwas später hatte mein guter Kunde von früher wieder einen längeren Auftrag für mich, "aber nur, wenn du AutoCad beherrschst", eine Software zur Erstellung präziser 2D- und 3D-Zeichnungen. Ohne etwas Glück ist man verloren auf lange Sicht.
Und so ging es einige Jahre ohne ernste Probleme. Ein Jahr ein großes Projekt, im kommenden die Suche nach irgendwas Passendes, zum Beispiel Übersetzungen von technischen Texten. Aber die Ungewissheit zehrte von innen und schuf Unruhe. Ich sehnte mich hinein in die warmen Arme der Pension. Es waren aber noch ein paar Jahre.
Die Spaziergänge im Wald gaben eine gewisse Kraft. Auch das Beeren- und Pilzepflücken war eine Freude. Ich kannte die guten Plätze nahe am großen See. Aber irgendein Störenfried ging gerne mit mir mit.
*
Ein Tag, an dem doch alles stimmte,
an dem die Freude in mir glimmte,
im Wald die roten Beeren winkten:
Komm her und nimm uns mit zu dir...
*
An einem Augusttag 2002 nahm ich wieder den 2-Liter-Eimer zum Preiselbeerenpflücken. Es war ein sommerlicher Tag, wie er besser nicht sein konnte.
Nach einer Stunde war der Eimer voll. Anstatt mit ihm zum Auto zu gehen, ging ich, wie so oft, den schmalen Pfad aufwärts durch den Wald.
Dieser lichte Kiefernwald beinhaltet ein eigenes kleines Paradies.

Ich machte einen kurzen Halt,
setzte mich auf ein moosiges Bett
und genoss den Vogelgesang,
der von der Stille verstärkt wird.
Auf der alten Föhre vor mir
hielt eine Amsel eine Pause.
Lächelnd winkte ich ihr zu.
Sie antwortete mit einer bekannten Melodie.
Dann schaute sie zu mir und ich zu ihr.
Seit dieser Begegnung bilde ich mir ein,
dass Vögel lächeln können.

Es war ein knapper Kilometer bis zu der schönen Stelle an dem felsigen Strand des großen Sees. Auf meinem einsamen Stammplatz, ein glatter Felsen mit Blick auf das Wasser, setzte ich mich hin und dachte etwas schuldvoll den Satz, den ich immer bei der Ankunft hier dachte: "Darf man sich eigentlich so paradiesisch freuen, wenn man doch von all dem Elend weiß, das es auf der Erde gibt?" Meine ehrliche Antwort war immer: "Ja, man darf. Das Schicksal stellt die Weichen."
*
Ein Tag, an dem der See mich lockte,
kein steifer Wind, kalt, störrisch bockte,
und ich am Seerand träumend dachte:
Was mehr denn braucht ein Mensch wohl hier?
*
Dann zog ich mich aus, kletterte den kurzen aber steilen Steinhang hinab, warf mich ins Wasser und erhöhte damit die Freude, die bereits vorhanden war. Wieder zurück auf dem Felsenplatz ließ ich mich von der Sonne abtrocknen, schaute auf das Segelboot nicht weit weg, und fühlte mich rundum zufrieden. Solche Tage machen alles wett, was an Unbill sich eventuell angesammelt haben sollte.
*
Ein Tag, an dem das Schicksal zuschlug
mit einem nicht erahnten Schachzug.
Ein Tag, der alles das zerstörte,
was fröhlich schlummerte in mir.
*
Fast gleichzeitig spürte ich ein unbekanntes Drücken auf der Brust. Es war kein Schmerz, eher ein unfreundliches Gefühl im Körper, verstärkt von kaltem Schweiß auf der Stirn. Ich erinnerte mich an eine Frage an meinen Arzt: "Was spürt man bei einem Herzinfarkt?". Dieser antwortete: "Viel, du hältst es nicht aus." Ich fühlte mich unwohl, spürte aber keinen ausgeprägten Schmerz. Ich fasste einen unklugen Entschluss und ging noch einmal ins Wasser, vielleicht hilft es. Kaum war ich drin, wollte ich wieder raus, spürte eine Art Panik. Aber das war gar nicht so einfach. Ich war kraftlos, konnte mich gerade so an den glatten Steinbrocken hochziehen. Ich setzte mich wieder auf meinen Felsen. Ich war, wie üblich, allein hier. Das war auch ein Grund, warum ich mich hier immer so wohlfühlte. Nun spürte ich, dass ich Hilfe brauchte.

Es war das Jahr 2002, ich besaß damals bereits ein Handy, schleppte es aber nie mit mir herum. Ich hatte ein echtes Problem. Ich schaute auf das Segelboot. Zwei Personen saßen entspannt in dem kleinen Boot und ließen es mit dem fast nicht vorhandenen Wind treiben. Sie schauten in die falsche Richtung. Ich sagte mir, dass sie mich doch nicht hören könnten, wenn ich riefe. Sollten sie mich sehen und ich winke, würden sie zurückwinken. Ich konnte nichts anderes tun, als den Rückweg anzutreten.

Ich zog mich an, nahm meinen übervollen Preiselbeereimer und ging langsam den Abhang hinauf, langsamer als ich es sonst tat auf dem holprigen Pfad. Ich hatte Angst, dass ich den Kilometer durch den Wald bis zum Auto nicht schaffen könnte. Ich kam den Abhang hoch. Abwärts ging es etwas leichter, aber Baumwurzeln und Steine waren mitleidlose Feinde.
Ich kam zum Auto. Es waren ca. drei Kilometer bis zum Städtchen. Ich wusste, wo der Notarztwagen steht. Aber er stand nicht da, ein anderer Kunde war wohl schneller. Ich fuhr zum Heimatmuseum, meine Frau hatte Dienst. Dort saß ich geduldig auf einem mittelalterlichen Stuhl. Zehn Minuten später lag ich im Krankenwagen und nach gut einer Stunde in einem Krankenhausbett, fast 100 km von meinem Bett zu Hause entfernt.

Ja, es war ein ausgewachsener Infarkt des Herzens.
Ja, ich habe ihn überlebt.
Ja, es dauerte einige Jahre, bis alles ganz überstanden war.
Aber danach fühlte ich mich besser und jünger als in vielen Jahren zuvor.

2006 bekam ich einen zusätzlichen Bonus, ein nicht für möglich gehaltenes Geschenk: ein ganz neues Leben, wie ich es noch nie kannte - dank einer Welt auf der anderen Seite der Welt von der ich wusste, dass es sie gibt, aber nicht glaubte, dass ich einmal für längere Zeit ein Teil von ihr sein dürfte. Ein wahrlich passendes Geschenk zum Beginn meiner Pensionierung. Den Anstoß dazu gab ein neugeborener Junge, unser erstes Enkelkind.

In dieser realen Traumwelt, wie ich sie gern nenne, wurden aus einem mir nicht bekannten Grund die Keime gestreut, aus denen die Knospen meines Spiels mit den Worten wuchsen. Aber das ist ein anderes nicht für möglich gehaltenes Geschenk, eine Geschichte, die sich mithilfe der Worte ständig vergrößert.

Ich habe Grund, es mit Freude zu sagen: Die fantastischen Zeiten, die ich, zusammen mit meiner Frau, in allen Teilstaaten dieses Landes verbringen durfte, waren wohl eine freundliche Gabe des Schicksals, des Lebens, ein Ausgleich für die schwere Zeit zwischen einem Bad im See - nach dem Pflücken von zwei Litern Preiselbeeren - und den Jahren danach.

*
Der warme Tag zweitausendzwei
liegt fest mir im Gedächtnis.
Ich ging durch einen lichten Wald,
ein wahres Naturvermächtnis.

Rote Perlen, die gepflückten,
füllten schmückend mein Behältnis,
sie verstärkten und bestückten
mein Preiselbeerverhältnis.

Ein schmaler Pfad führt mich zum See,
zum Platz für Glücksgedanken.
Der Felsenstrand ist mein Metier,
wem soll ich dafür danken?

Da kam, fast schleichend, unbewusst,
irgendwas, kein echter Schmerz,
ein Druckgefühl aus meiner Brust.
Ich fragte bang: "Ist es das Herz?"

Ich schaute nochmal auf den See..
Ich war total allein.
Da nahm ich meine Preiselbeeren
und ging ganz sachte heim.

Mit Notarzt dann ins Krankenhaus,
man nahm mich aus dem Markt.
Dort fand man dann auch schnell heraus:
Es war ein Herzinfarkt.

Das Schicksal hat sich ausgetobt,
ich hab ihm längst vergeben.
Es hat seitdem, Gott sei gelobt,
viel Schönes mir gegeben.

**

© Willi Grigor, 2020

Zugehörige(s) Erzählung, Gedicht:
literatpro.de/prosa/270616/au-2006-australien-reise-ins-unbekannte-teil-1
literatpro.de/gedicht/220716/das-schicksal-hat-sich-ausgetobt

Interne Verweise

Kommentare

31. Okt 2021

Mit Herz geschrieben, ganz direkt -
Was man beim Lesen rasch entdeckt ...

LG Axel

01. Nov 2021

Schreiben dem Herzen, der Seele tut gut -
sich jagen und plagen ist falscher Mut.

LG
Willi