Es hat mich glatt umgehauen, als mich Fiete zu sich nach Hause einlud, zum, wie er sagte, „Monster-Eis-Schlecken“.
Da Fiete sonst nie Einladungen aussprach, und die Groenebooms ganz allgemein als merkwürdig, verschroben und sehr eigen angesehen wurden, wusste ich nicht recht, was ich davon halten sollte. Eine Charme-Offensive, um ein wenig mehr Standing zu erlangen? In der Klasse war Fiete reichlich isoliert, ich bin der Klassensprecher. Fiete war nicht sonderlich beliebt, um mich bildeten sich ganze Trauben auf dem Pausenhof. Aber Fiete?
Er gehörte mit Abstand zu den ärmsten Kids an der Robert McNamara Grundschule, hier in Chorweiler. Kleidung, Sneaker, Habitus, der Schulranzen oder auch der sehr bizarre Hairstyle, alles an Fiete strahlte bittere Armut aus. Nur ein Beispiel. Wo fast alle einen Fjällräven Kanken Nylonrucksack (Graphite, Navy, Fog, Black oder in Blue Ridge) zur Schule trugen, führte der 9jährige Fiete einen Herlitz Motivrucksack für die Grundschule mit sich, mit farbenfrohen Fußballabbildungen. Wir alle bedauerten den im wahrsten Sinne des Wortes „armen Jungen“. Die meisten trugen Giesswein- oder Nike-Sneaker, einige auch Adidas, aber Fiete kam in Crivit Sportschuhen (von Lidl). Ich hatte einen Balmain B-Buzz 18 PVC-Rucksack aus Paris, den „Schulranzen eines künftigen Kings“, wie mein Vater nicht müde wurde zu betonen. Dieser transparente Rucksack war bei den Kids der absolute Hit. Er hatte mich auch zum Klassensprecher gemacht.
Ich sagte zu. Meine Eltern hatten mich gelehrt, keinerlei Standesdünkel zu zeigen. In jedem Fall wollte ich, das Kind aus ziemlich betuchtem Elternhaus, aufzeigen: Keine Ressentiments gegenüber den als niedriger erachteten Ständen, und keinerlei Vorurteile, keine Berührungsängste und natürlich auch null Hochmut oder Arroganz.
Die Groenebooms wohnen in der Florenzer Straße in Chorweiler. Dort springen auch schon mal Menschen aus dem Hochhaus. Wir dagegen wohnen in Seeberg, in der Willi-Suth-Allee. In einem prächtigen Anwesen. Da prallten demnach zwei Welten aufeinander. Aber Kinder und Eis, das passt nun einmal. Eine Einladung zu einem Monster-Eis-Schlecken konnte ich gar nicht ausschlagen. Und das Gute daran war: Ich sollte der einzige Gast sein. Bedeutete: Mehr Eis für Fiete und mich. Dennoch merkwürdig: Eingeladen hatte mich Fiete noch niemals zuvor zu sich nach Hause.
Mit den üblichen Verhaltensregeln seitens meiner Eltern ausgestattet (Benimm dich, zeige angesichts der Armut dort keinerlei despektierliches Verhalten, bleibe immer höflich und zuvorkommend, zeige Anstand, äußere dich niemals abfällig über die in der Wohnung gesichteten Möbel und Einrichtungs- bzw. Wertgegenstände bei den Groenebooms!), stapfte ich tapfer in den sozialen Brennpunkt hinein... Den Komplex in der Florenzer Str. 32 fand ich schnell, gleich neben dem REWE Markt. Typisch, diese 450 Einwohner beherbergende Wohnmaschine, trist und farblos, 23 Etagen umfassend. Im 3. Stockwerk fand ich die angegebene Wohnung der Groenebooms. Fiete hatte mir gesagt: Ein großer roter Che Guevara Kopf klebt auf der Wohnungstür.
Das Namensschild zeigte ‘Fam. Morschbein’, ich klingelte dennoch. Fiete öffnete. Auf den Namen angesprochen, meinte er lakonisch: Das waren die Vormieter. Ich denke, ich hob die linke Braue kurz an, erinnerte mich jedoch an die Warnung der Eltern, auf gar keinen Fall überheblich zu wirken, und senkte brav die Braue. Verstört war ich in jedem Fall. Immerhin lebten die Groenebooms schon gute fünf Jahre hier. Und dann noch immer das Wohnungstürklingelschild vom Vormieter? Nun gut, was ging´s mich schon an? Jasper Groeneboom, Fietes Vater, schoss um die Ecke: „Schön, datt du jekommen biss, Jung!“ brüllte der arg beeindruckend große Mann im grell neongrünen Trainingsanzug. Warum er so schreien musste, erschloss sich mir nicht. Aber es stellte sich heraus, dass Vater Groeneboom alle Informationen, die er abzusondern gewillt war, brüllen musste. Immer. Das war sehr gewöhnungsbedürftig.
„Setz dich!“ schrie der Riese und wies auf den Tisch in der Küche. Dort standen zwei Schüsseln. Jasper brüllte: „Datt iss ene Kump!“ und deutete auf die Schüssel vor mir, als ich mich gesetzt hatte. „Normalerweise bruchä isch dä Kump für einen gepflegten Kümpchesschnedd bei mingem Sohn Fiete“, dröhnte der alleinerziehende Vater. Ich ahnte, wie der befremdende Haarschnitt seines Sohnes zustande gekommen war. Schüssel auf den Kopf und rundherum schnibbeln, das war der ‘Kümpchesschnedd’. Wenn der Goliath versuchte, Hochdeutsch zu reden, klang das schon sehr seltsam. Er mischte Kölsch mit bedenklich gequältem Hochdeutsch.
Was ich sehr seltsam fand: Neben meiner Schüssel, ebenso wie neben der Schüssel des Sohnes Fiete, lag ein rechter, gelber Haushaltshandschuh, vermutlich Größe M. Verwundert sah ich Fiete an. Doch der wirkte zuversichtlich, hoch erfreut, wartend, hoffnungsfroh und äußerst gut gelaunt. Vielleicht gab es nicht gar zu oft Eis im Hause Groeneboom?
Jasper Groeneboom stellte, für mich überraschend, eine Milram Dessert-Soße in der Geschmacksrichtung Vanille, im 1 Liter-Tetra-Pack, auf den Tisch. „Jetz jiddet glisch die eiskalte Köstlichkeit, Jungs!“ tönte der merkwürdig müffelnde Riese. Er strebte in erstaunlich kurvigem Gang zum Kühlschrank, öffnete das Gefrierfach und holte eine 15fache Jumbo Silikon Eiswürfel-Form heraus. Er brach die 15 Würfel in meine Schüssel hinein, holte eine weitere Form und gab die Würfel in die Kump seines Sohnes. Sehr zufrieden schrie er dann: „Da habt ihr euer Eis! Jetzt esst. Lecker Eis! Ze drünke jitt et prickelnd-sprudelndes Kraneberger Spezial!" Groeneboom holte aus einer Schublade ein Röhrchen Vitamin-C-Brausetabletten und schenkte in eminent verdreckte Gläser Leitungswasser aus dem Hahn ein. Während er sich mir näherte, um das Glas abzustellen, ertrug ich sein penetrantes Odeur stoisch ruhig. Ich wusste, wie ich mich zu verhalten hatte als Gast. Da ist es nicht angebracht, sich peinlich berührt, zurückschreckend, als Ausdünstungs-Opfer zu präsentieren. Haltung bewahren, Contenance. Ich nahm mir vor, nichts zu trinken. Aber dieser Handschuh? Dieser quittengelbe Haushaltshandschuh?
Verunsichert sah ich meinen Klassenkameraden an. Der streifte fröhlich seinen sehr gelben Haushaltshandschuh über, öffnete die Vanille-Dessert-Soße, nahm sich einen Eiswürfel und gab ordentlich Soße darüber. Dann schleckte er am Würfel. Ich sah, es muss zugegeben werden, konsterniert, verblüfft, perplex und über alle Maßen enorm beeindruckt zu. Was ging denn hier ab?
Zögernd streifte ich den Handschuh über, dann nahm auch ich einen Eiswürfel - und sah mich selbst doch tatsächlich Vanille-Soße darüber kippen. Schließlich schleckte ich an meinem Würfel. Es schmeckte nicht einmal schlecht. Am Ende hatten wir die komplette Schüssel leergeschleckt, sogar die Milram Soße war fast aufgebraucht. Wirklich unfassbar diese ganz spezielle Erfahrung, unglaublich dieses Abenteuer im Norden der Stadt, dieses Monster-Eis-Schlecken bei den Groenebooms im 3. Stock der Florenzer Straße 32 in Chorweiler.
Vater Jasper brüllte noch zum Abschied: „Do küss doch widder ens zum Eisessen? Jo? (hier brachte er den typisch kölschen Singsang zum Besten, tief anfangen, hoch enden: Jo-oo?) Beim nächsten Mal jibbet och en andere Soß...“ Tröstlich.
Zuhause bat ich meine Eltern, mich auf eine andere Schule zu schicken. Irgendwie, das fühlte ich, hatte Fiete mich als „ABF“ ins Auge gefasst. Und das würde ich wohl kaum überleben. Der brüllende Riese Jasper, das „Eis-Vergnügen“, die Wohnmaschine in der Florenzer Straße, der extrem anhängliche Fiete, ich wollte ganz dringend in eine neue Schule. Die Eltern entsprachen meinem Wunsch letztlich sehr gern. Als ich alle Begebenheiten bei den Groenebooms geschildert hatte, war der Umzug gesichert. Vater kümmerte sich noch am selben Tag darum. Diplomaten-Sohn, da hat man so seine Freiheiten.