Fahrstunde mit einem Engel

Bild zeigt Alf Glocker
von Alf Glocker

Engelchen hat zwar schon einen Führerschein (damals hat ihm ein gütiger Verkehrs-Gott Flügel verliehen und den Prüfer-Teufel mit Blindheit geschlagen), aber es muss nun das Führen und Fahren eines Automobils ein zweites Mal erlernen! Denn jahrelang zuckelte es mit einem Automatik-Untersatz durch die Lande, um seine Wohltaten zu verteilen.

Bengelchen hat sich bereit erklärt, sich selbst das Fürchten und Engelchen das Fahren neu zu lehren. Dafür fahren Engelchen und Bengelchen aufs Land. Dort gehen sie erstmal spazieren! Entspannung tut gut – besonders vor einem derart dramatischen Unterfangen.

Sie kehren zurück, Engelchen möchte nun das Steuer übernehmen und fragt Bengelchen: was muss ich denn jetzt tun, um aus der Lücke am Parkplatz herauszufahren? Bengelchen sagt: da wir vorwärts eingeparkt haben müssen wir nun rückwärts herausfahren!

Engelchen guckt betreten. Darauf wäre es wohl alleine nicht gekommen?
„Wie macht man das mit einer Gangschaltung? Ich hab’s vergessen!“
„Du musst aufpassen“ rät Bengelchen, „das hier ist abschüssiges Gelände nach vorne, weshalb auch die Handbremse angezogen ist – wir müssen sehen, daß wir nicht nach vorne, in den Graben fahren!“

Also: Rückwärtsgang einlegen, Handbremse loslassen und Gas geben!
Engelchen tut was ihm gesagt wurde. Es legt den Rückwärtsgang ein, gibt Gas und lässt die Handbremse los. Trotzdem rollt der Wagen ein Stück näher zum Graben!

„Soll ich rausfahren?“, meint Bengelchen irritiert, „du kannst ja danach wieder das Steuer übernehmen“. „Neien!!“ ruft Engelchen, ich fahre!“, also was soll ich tun?“ „Rückwärtsgang einlegen, Handbremse lockern und Gas geben!“, meint Bengelchen. Der Wagen rollt nach vorne, auf den Graben zu! Der Vorgang wiederholt sich noch zweimal, dann gibt Engelchen schwitzend auf. Auch Bengelchen ist erschöpft, kutschiert das Automobil aber dann geknickt aus der Parklücke, denn es kann spüren, wie aufgebracht Engelchen ist.

Nachdem Engelchen wieder auf der Fahrerseite sitzt, schaut es Bengelchen wütend an: warum hat das denn jetzt geklappt, ich habe doch alles getan was du gesagt hast? Da fällt es Bengelchen wie Schuppen von den Augen…“Hast du denn auch die Kupplung losgelassen?“, erkundigt es sich schüchtern. „Siehst du, davon hast du kein Wort erwähnt!“ grollt Engelchen, sonst hätt‘ ich’s ja schließlich getan!“

Es fährt zuckelnd und holperig weiter. Nach jedem Gangeinlegen macht der Wagen entweder einen Satz vorwärts, oder Bengelchen hängt im Sicherheitsgurt, weil eine abrupte Beinahe-Bremsung erfolgt ist. „Man kann oder sollte Gas und Kupplung gefühlvoll aufeinander abstimmen“, versucht Bengelchen anzumerken, doch da bremst Engelchen plötzlich absichtlich! „Mit dir kann ich das nie lernen, du bringst mich andauernd durcheinander!“.

Nun fährt Engelchen auf eine rote Ampel zu, im vierten Gang! Es wird, holperfrei ein wenig langsamer. Vor der Ampel erfolgt eine Vollbremsung! „Hast du auch heruntergeschaltet, als wir uns der Ampel näherten?“, flüstert Bengelchen ängstlich. „Ich fahre wie ich fahre und du fährst wie du fährst“, kontert Engelchen empört. „Ich habe gebremst, bei durchgetretener Kupplung, das genügt mir!“.

An der zweiten Ampel versucht Engelchen herunter zu schalten, aber es findet die Gänge nicht sofort. Es rudert mit dem Schaltknüppel wie beim Kochen in einem Topf, wobei es kracht und knirscht. Engelchen gerät außer sich! Voller Verzweiflung greift es nebenbei noch nach allen verfügbaren Schaltern am Armaturenbrett, als würde es nach dem rettenden Strohhalm suchen. Das Heizungsgebläse geht an und aus, der Scheibenwischer setzt sich in Bewegung, und die Ampel kommt immer näher!

Kurz vor der Ampel erreicht Engelchen den Ersten Gang, drückt ihn krachend rein und das arme Automobil kommt, bei Tempo 30, fast zum Stehen. Aber eben nur fast! Inzwischen ist es Rot geworden. Gegenverkehr, der links abbiegen will, kann Engelchens Verhalten nicht deuten, gibt Gas, bremst, gibt Gas, bremst. Die Situation wird langsam brenzlig!

Am Steuer des anderen Wagens sitzt auch ein Engelchen! Als sich die beiden Engelchen in der Straßenmitte begegnen, inzwischen den kreuzenden Verkehr beidseitig behindernd, schüttelt das Engelchen auf der Linksabbiegespur entrüstet den Kopf und brüllt (gottseidank) unverständliche Worte gegen die Fensterscheibe. Unser Engelchen aber schimpft beleidigt: wie rücksichtslos die Leute doch heutzutage sind!

Bengelchen hat Tachykardie! Denn jetzt will Engelchen das Wenden üben. Dafür fährt es auf einen Parkplatz, über den man (dann weiter zu Fuß) einen Wanderweg erreicht. Eine Menge Parklücken bieten sich an! Doch keine ist Engelchen groß genug und schließlich ist es auch am Ende aller Parkmöglichkeiten vorbei gefahren. Bengelchen bekommt Angst: Engelchen fährt ungerührt hinaus, auf den Wanderweg. Die irritierten Blicke der Spaziergänger berühren es nicht.

100 m geradeaus ist eine Abzweigung. Da möchte es hin. Die Spaziergänger hüpfen erschrocken zur Seite, ins Gras. Bengelchen erschrickt ebenfalls und es schämt sich zugleich. Was sich wohl die Leute denken?! Aber Engelchen frohlockt, während es unbeholfen in die Abzweigung rangiert: Lalalala-la, da müssen die jetzt auch noch durch“.
Und das wird nun seine Masche, seine besondere Eigenart – die Fröhlichkeit. Immer wenn es einen Fehler gemacht hat, fängt es zu singen an. „Och, ich bin bei Rot durchgefahren, da kann ich jetzt auch nichts mehr machen, lalalalala-la!“

Engelchen und Bengelchen fahren in ein Industriegebiet, wo zum Glück nicht viel los ist. Aber die Straßen sind dort nicht immer gleich breit… Eine größere Hauptstraße verjüngt sich z.B. nach rechts um die Hälfte. Ein hoher Zaun behindert die Sicht. Bengelchen fängt zu zittern an. Engelchen fährt mit unverminderter Geschwindigkeit auf die Rechtsabbiegung zu. Es fragt: muss ich hier auch wieder etwas Besonderes beachten? Bengelchen nickt eifrig und beeilt sich zu sagen: Geschwindigkeit verringern, bremsen, runter schalten, damit wir den Motor nicht abwürgen wenn wir weiter fahren, Blinker setzen, gucken ob was kommt, und einbiegen!

Engelchen ist genervt! „Was soll ich denn noch alles gleichzeitig machen?“ ruft es. „Ich fahr da jetzt einfach rüber und Schluss!!“ Der Himmel hat ein Einsehen – es kommt nichts! Bengelchen ist erleichtert und sehnt das Ende des Fahrunterrichts herbei! Kurz darauf kommen sie wieder an eine Ampel. An dieser Stelle steigt die Fahrbahn steil an. Engelchen guckt kurz vor dem Anhalten Bengelchen an. „Kein Problem“ meint Bengelchen, „du musst nur beim Stoppen die Handbremse anziehen“.

Als es Grün wird kommt Engelchen nicht vom Fleck weil es vergessen hat, die Handbremse zu lockern. Der Wagen bäumt sich auf, dann stirbt der Motor ab! Ein Hintermann hupt, zeigt den Vogel und überholt mit quietschenden Reifen! Engelchen lässt den Motor wieder an, gibt fürchterlich viel Gas, der Motor heult auf, endlich löst es die Handbremse und fährt, fast schleudernd und auf nichts weiter achtend, nicht wie geplant geradeaus, sondern links herum, auf eine Parkbucht zu.

„Wo willst du denn hin?“ kreischt Bengelchen. „Mir reicht’s jetzt für heute“, brummt Engelchen missgelaunt, „ich steige sofort aus und du übernimmst das Steuer!“. Dann rumpelt der Wagen auch schon gegen den Randstein. „Danke!“ krächzt Engelchen, „danke, daß du keine Geduld mit mir hattest, aber immerhin hast du’s ja überlebt, oder vielleicht nicht?!“ Bengelchen nickt artig, fährt jedoch nicht sofort weiter. Erst muss es seine Blutdrucktabletten einnehmen…

©Alf Glocker

Veröffentlicht / Quelle: 
Auf anderen Webseiten
Prosa in Kategorie: 
Thema / Klassifikation: