Gespräche in der Flirt Box 6000

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von Gherkin Green

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Heute: Ein verrückter Kerl

Wir befinden uns im frühen Herbst des Jahres 2024. Corona liegt nun schon gute 2 Jahre hinter uns allen. Die Dinge entwickeln sich, passen sich den Gegebenheiten an. Ziemlich in ist mittlerweile, da in Deutschland gut die Hälfte aller Haushalte von Singles bewohnt werden, die „Flirt Box 6000“ zu buchen.

Ida und Jens haben die ‘Non plus ultra Flirt Box’ der Standard Edition gebucht. Hier wird in einem kitschig-italienischen Ambiente, bei Castelli del Grevepesa Chianti in einer Bastflasche, mit sanften Italo-Pop-Klängen aus dem Hintergrund, Plätschern eines nahen Gewässers inklusive, stilvoll geflirtet. Bei der Standard Edition kann die Musik nicht ausgesucht werden. Ida und Jens bereuten es sehr bald, nicht doch die Deluxe-Edition gewählt zu haben. Aber sonst stimmte alles, wie im Prospekt auch vollmundig verkündet: „Ganz nach Ihrem Geschmack flirten Sie in der schalldichten Kabine und genießen das Non plus ultra Flirt Box Paket „Venice by night“. Niemand, der sie stören könnte, Mondlicht, ein laues Lüftchen, für alles ist gesorgt. Da mag es draußen stürmen oder regnen, ein Gewitter toben, Blitze zucken, in ihrer Box gibt es nur sie beide - und die leise aufkommende Liebe!“

Im „Venice by night“-Flirt Box Areal stehen 117 Kabinen, je nach Wunsch in ein ganz spezielles Licht getaucht. Alles ist künstlich erzeugt. Ob Mondlicht, das laue Lüftchen oder das sanfte Plätschern, von der Musik bis hin zu den im wabernden Mondlicht noch gerade so erkennbaren Brücken, alles von einem genialen Komponisten sehr authentisch gestaltet. Lassen wir die Musikauswahl beiseite, und bewundern wir die wirklich beeindruckende Zusammenstellung, ja nach Geschmack zugeschnitten, in all den Farben und Nuancen, in der Deluxe Edition auch mit Feuerwerk und Gondoliere (singend). Die venezianische Gondel gleitet permanent um die Flirtenden in ihrer Kabine herum. Die bekommen den Gesang eingespielt, denn die Kabine selbst ist schalldicht. Aus gutem Grunde. Denn die von Computern bestimmten Teilnehmer sind nicht immer ganz so kompatibel, wie es die Auswertung zunächst ergab. Ein „Match“ ist schnell verkündet, aber in den seltensten Fällen auch tatsächlich echt; eine Herzkönigin findet nur in etwa 12 % aller Fälle ihren Herzkönig in der Kabine.

Dafür gibt´s so gut wie alle 12 Minuten ein Match. Deutschlandweit. Love in Boxes!

Die Geschäfte gehen gut bei den Betreibern der „Flirt Box“. Mehr als die Hälfte der Boxen sind belegt. Und die werden nur zum Toilettengang verlassen. Ida und Jens haben 99 Minuten gebucht. Der Chianti schmeckt, das Blind Date, rein Computer generiert, ergab zunächst durchaus Übereinstimmungen. Sie Krimischriftstellerin, er Laienschauspieler in einer Theatergruppe, doch, da gab es die ersten 55 Minuten ein paar nette Gesprächsthemen. Jetzt aber stockt es gerade ein wenig.

Hören wir doch einmal hinein. Ganz zwanglos. Beginnend mit der Minute 57.

„Das ist einfach nicht stimmig mit uns beiden. Du bist ein verrückter Kerl. Und ich suche nun einmal etwas Bodenständiges. Das passt nicht bei uns.“

„So bleibe ich also in deinem Gedächtnisspeicher als verrückter Kerl kleben?“

„Genau.“

„Das stimmt mich nudeltraurig. Und wenn ich nun vor deinen Augen einer recht alten, arg klapprigen Frau über die Straße hülfe? Könntest du dann das mit dem verrückten Kerl nicht vielleicht abmildern in ein ganz netter Kerl?“

„Nein. Mitnichten. Denn die gute alte Dame hatte ja überhaupt nicht über die Straße gewollt. Du hast sie gezwungen. Das konnte man schon daher ableiten, dass sie dich verzweifelt mit ihrem Regenschirm in die Weichteile zu stoßen versucht hat. Hast du das denn gar nicht mitbekommen, seelenloser Chaot?“

„Doch, das schon. Ich legte es allerdings so aus, dass sie vor lauter Aufregung zu fuchteln beginnt, weil doch nun das große Abenteuer, die Straßenüberquerung, auf sie zukommt. In diesem Alter bedeuten Straßenüberquerung, Busbesteigung und Besuche beim Arzt bereits ein erkleckliches Maß an Abenteuer. Ich war daher der Meinung, die Alte fuchtelt vor lauter Aufregung mit ihrem Schirm herum, und dabei stößt sie mitunter versehentlich in die Richtung meiner Weichteile...“

„Nein. Es waren reine Abwehr-Maßnahmen. Sie wollte definitiv nicht über die Straße! Und du hast sie quasi hinübergenötigt. Das ist nicht nett. Da bleibst du, nach wie vor, in meinem Gedächtnis als ein verrückter Kerl, nicht als ein netter Kerl, haften. Diese Oma hat doch nun wirklich laut und deutlich gesagt: Ich will nicht!“

„Sie hat ziemlich genuschelt... Ich verstand: „Ich bin dicht.“ Vielleicht hatte sie ja eine Bong geraucht zuvor... Oder einen Joint...?“

„Eine Bong geraucht. Also, weißt du, Jens... Du wirst mit Sicherheit für immer als ein sehr verrückter Kerl im Eckstübchen meines völlig verstaubten Gedächtnisses haften bleiben. Nicht als ein netter Kerl. Ganz sicher nicht als ein netter Kerl.“

„Jammer. Du musst dabei jedoch bedenken: Selma, so heißt die Dame, sie wird im nächsten Monat 90 Jahre alt, hat einen Verehrer im „Rosenfrieden“, das ist ihr Heim, im Außenbezirk gelegen, den Herbert. Alle nennen ihn nur „Hörb“. Der ist ein sehr aufgeräumter, lebhafter Charakter. Gerade mal eben 95 Jahre frisch, sehr galant, äußerst freundlich und stets gut gelaunt. Eben dieser Hörb knattert mit Rollator und guter Laune auf der Straßenseite vorbei, auf die ich Selma gerade gebracht habe. Es könnte die Schicksalsbegegnung überhaupt sein. Für beide. Na, wie meinen?“

„Herbert aber ist ein alter Nazi!“

„Man muss auch mal vergessen können, all das ist 75 Jahre her! Hörb ist ganz o.k.!“

„Mord verjährt nicht! Nazitum auch nicht!“

„Aber Ida, jetzt übertreibst du aber. Hörb wird nun wirklich von allen im Rosenfrieden geliebt, sowohl von den Angestellten als auch von den Bewohnern. Er bringt dort alle zum Lachen, steckt sie an mit seiner sprichwörtlich guten Laune, jeden Tag. Und er weiß köstliche Bonmots zu erzählen, hat immer einen Witz parat, kennt ausgefallene Kochrezepte, kann einen Schuhplattler noch erkennbar andeuten...“

„Nazi. Strammer. Immer noch.“ (Jens, zunehmend verzweifelter, hebt erneut an)

„Hörb hat 1971 das winzige Taschen-Kompakt-Metrum ‘Tausendsassa’ erfunden!“

„Und was misst es?“

„Alles!“

„Oh...“

„Gib der Liebe dieser zwei Greislein eine reelle Chance, Ida. Bitte.“ (Flehend)

„Metrum hin oder her. Ich lasse meine Selma doch nicht mit einem Alt-Nazi durchs Leben streben.“

„Charme! Gute Manieren! Bankkonto! Kompakt-Metrum! Patent-Anmeldung! 1971!“

„Antisemitismus! Ausländer-Hass! Innige Liebe zu Hess! Glühender Trump-Verehrer!“

„Auf deiner Straßenseite wäre Selma der verhassten Clothilde begegnet!“

„Und wer ist das bitteschön nun wieder? Ständig bringst du mir neues Personal her.“

„Ihre Erzrivalin. Immer die besseren Schulen besucht, in

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