Daystop Dansville - Page 2

Bild von Klaas Klaasen
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Kitty, die gerade zuvor noch das Tanzbein geschwungen hatte, bekam einen hysterischen Anfall und rannte aus dem Lokal in die dunkle Nacht hinaus. Die menschliche Whiskyflasche, die den Namen "Bitch" trug, folgte ihr durch die von ihr offen gelassene, hin und her pendelnde Saloontür. Erst jetzt meldete sich auch der Besitzer hinter der Bar zu Wort. Er war ein zwar brummig wirkender, aber gutherziger Mittfünfziger und versuchte nun seine Gäste zu besänftigen. Er sagte bestimmt: „Keine Panik, Herrschaften. Das wäre genau das, was in solchen Momenten nie passieren darf. Ich hole Kerzen. Ruhig Blut! Einen kleinen Augenblick, bitte. Bin sofort wieder da.” Bei der Kartenlegerin schien es Wunder zu wirken. Sie atmete etwas gemäßigter. Hennig dagegen murmelte unverständliche Worte , und John meinte hüstelnd: „Ja, der Sturm. Der hört und hört einfach nicht auf. Im Gegenteil. Sieht so aus, als wollten sich alle Tornados dieser Welt hier treffen. Veranstalten so eine Art Tornadofest. Haben sich nebeneinander aufgereiht und einen Kreis gebildet... Sind plötzlich Hunderte von kleinen und großen Tornados, die Kreiseltanz tanzen. So etwas habe ich ja noch nie gesehen. Scheint fast, als lauerten sie uns auf. Man könnte denken, sie fordern uns auf, mitzufeiern, - sie schauen zu uns herüber".

"Mann, ich will hier raus!” Kitty und der Whiskymann "Bitch" kamen, arg vom Sturm zerzaust und zurückgetrieben, wieder ins Lokal gestürmt. Der Wirt war zurück und stellte Kerzen auf. Schwach erleuchtet vom Flackerschein konnte man in den Gesichtern von John, Hennig, Bitch, und Kitty Angst erkennen. Einzig die Kartenlegerin schien sich aus dem Sturm nichts zu machen. Dagegen glich Tänzerin Kitty einer Mumie. Ihr Gesicht hatte sich zu einer Fratze verwandelt. Ihre gesamte Mimik schien wie eingefroren. Der Gast, der sich zuvor drohend gegen Hennigs Geschwätz gewandt hatte, saß nun still am Tisch und hielt eine Pistole in der Hand. Er spielte mit der Trommel seines Colts, was wie beim Roulette eine schier knisternde Spannung erzeugte. Bitch meinte: „Ihr habt nicht gesehen, was wir gesehen haben. Die Tornados dort draußen haben uns angesehen.” Ein hysterischer Schrei entfuhr Kitty abermals, und der Wirt reichte ihr ein Glas Wasser. Bitch zeigte auf Hennig. „Alles hat mit dem da angefangen. Seit dieser Kerl bei uns ist, tobt auch das Unwetter hier. Er hat es mitgebracht!” „Was du von dir gibst, Bitch, ist albern,” sagte die Kartenlegerin und zündete sich eine Zigarette an. „Benimm dich nicht wie ein Kind. Schlimmer noch! Du bist es, der alle verrückt macht.” Hennig schien sich wieder im Griff zu haben. Er ging zur Bar und bestellte einen Whisky. Er kippte ihn mit einem Zug herunter und sah kurz zur Kartenlegerin hinüber, um dann durch die Tür zu verschwinden. Draußen hatten sich die Tornados zu einer Armee formiert und standen nun in einer Entfernung von etwa 50 Meter vor dem Lokal in Reih und Glied. Sie schienen auf Hennig gewartet zu haben. Der stieg in seinen alten Chrysler und fuhr los. Die Tornados folgten ihm. Nachdem er die Raststätte ´Daystop Dansville´ verlassen hatte, überfiel ihn die Erinnerung an die letzten Jahre seines bisherigen Lebens. Er schaltete das Radio ein. Der Highway schien verlassen. „Heute Nacht möchten wir euch mit Walkin’ after Midnight von Patsy Cline verwöhnen!“ tönte eine rauchige Frauenstimme aus dem Radio ... Hennig mochte die alten Country Songs von Patsy. Sie erinnerten ihn an die erlesene Plattensammlung seiner Mutter und daran, wie sie jeden Sonntag nach dem Essen mit ihm zu dieser Musik getanzt hatte. Die Tornados hatten sich zwar auf die Entfernung von einigen hundert Metern zurückgezogen, doch sie folgten ihm beständig. Auf der Main-St sah er zur Rechten den Dansville Municipal Airport. „Seltsam,“ dachte er, „warum ist da kein Licht an?” Er ließ den Airport hinter sich liegen und fuhr auf die State Route 63 N, die in Richtung Groveland führte. Plötzlich vernahm er ein Klopfen. Es klopfte wirklich, als würde jemand vor einer Tür stehen und Einlass begehren. Erst einmal , dann zweimal und dann immer wieder und immer lauter. Hennig lokalisierte, woher das Gehämmer kam: laut und deutlich aus dem hinteren Teil seines Wagens. Er fuhr an den Straßenrand, stieg aus und öffnete den Kofferraum. Es entfuhr ihm: „Sie? Was wollen Sie denn hier - in meinem Auto?” Es war Kitty, die sichtlich verängstigt zu Hennig aufschaute. „Ich – ich wollte nicht in diesem Kaff da hinten verrecken. Nehmen sie mich weiter mit? Bitte.” „Ich kann Sie nicht mitnehmen. Im Gegenteil, ich bringe Sie wieder zurück. Kommen Sie raus, nach vorn zu mir.“ Hennig war geschockt. Auf der Fahrt zurück nach Dansville richtete er kein einziges Wort an die Frau. Er dachte: "Was mache ich nur mit ihr? Habe ich nicht schon genug Probleme? Was will sie von mir? Wieso sucht sie sich ausgerechnet mich aus? Sie hätte sich doch den verrückten Bitch schnappen und mit ihm auf und davon gehen können. Mit einem so alten Sack wie mir ...” Kitty unterbrach darauf, klare Antwort gebend, Hennigs Gedankengang, indem sie versuchte, ihm die Hose zu öffnen und damit sehr deutlich machte, dass sie ihm an die Unterwäsche wollte. Es durchfuhr ihn wie ein Schlag, ohne dass er hätte sagen können, ob es positiv oder negativ war, jedenfalls verlor er für einen Augenblick die Kontrolle über den Wagen, der links auf ein Schild prallte, sich um 180 Grad drehte und überschlug … Kitty hatte es schwer erwischt. Hennig kam mit einem kleinen Kratzer davon. Er zog sich aus dem offenen Fenster auf der Fahrerseite nach draußen, als der Wagen plötzlich Feuer fing. Er torkelte um den Wagen herum und versuchte, die Beifahrertür zu öffnen. Doch das erwies sich als unmöglich. Der Wagen lag mit dem Dach auf dem Boden, und Hennig versuchte sitzend, mit den Füssen die Beifahrerscheibe einzutreten. Er hatte Glück, es klappte, und er betätigte durch den Scheibenausschnitt den Schlossmechanismus, erwischte Kitty und zog sie im letzten Moment hinaus ins Freie. Er schleppte sich mit der Verletzten einige Meter weg vom brennenden Fahrzeug und konnte nur noch zusehen, wie sein alter Autobahnkumpan verbrannte. Er hatte mit einer Explosion gerechnet. So etwas sah man doch ständig in Filmen, fiel ihm ein. Aber es gab keine Explosion. Nicht einmal eine kleine. Hennig schleppte sich mit der verletzten Kitty einige Zeit auf dem Highway entlang, da sah er sie … Die Hand Gottes! Sie lag lang ausgestreckt mitten auf der Straße. In der Länge zeigte sie das Ausmaß eines Hochhauses, und Hennig empfand so viel Bewunderung, dass ihm die Tränen kamen und er zu weinen begann. „Wie wunderschön ist das!” dachte er. Der Fingernagel des Zeigefingers schien der Eingang zu sein. Er ließ sich wie eine Tür öffnen, woraufhin man im Inneren einen langen Korridor sah, beidseitig mit hunderten von Türen ausgestattet. Kitty vermochte sich nicht mehr weiterzuschleppen. „Geh du alleine weiter,“ sagte sie erschöpft.„Ich warte hier auf dich, bis du Hilfe gefunden hast.“ Sie vermochte es nicht zu realisieren, wo sie sich gerade befand. Auch hätte sie nicht verstanden, dass Hennig glaubte, die Hand Gottes gefunden zu haben. Sie begriff nur, dass Hennig sie in ein Gebäude geschleppt hatte, das ihr Schutz bot. Er sah sie schweigend an und ging. Eine von den vielen Türen fiel Hennig plötzlich auf. Die Tür hatte ein Gesicht, und dieses Gesicht glich seinem eigenen. Etwas zwang ihn, sie zu öffnen, und als er den dahinterliegenden Raum betrat, sah er das Innere der Raststätte "Daystop Dansville". Die Musikbox spielte "The Midnight", und die verklemmte Nadel wiederholte immerfort den gleichen Ton. Der Wirt lag mit blutüberströmten Kopf auf der Theke, und auch alle anderen waren tot und boten ein Bild des Grauens. Und plötzlich erkannte Hennig, dass er es gewesen war, der sie alle umgebracht hatte. Nur Kitty war die einzige überlebende Zeugin der Tat. Bruchstückhaft kamen Bilder in seine Erinnerung zurück, Bilder der Tat, seiner Tat. Er war - ein Killer. Nichts weiter wollte er, als diesen Raum zu verlassen. Doch die Tür war verschwunden. Es gab einfach keinen Ausgang, durch den er hätte flüchten können. Nur hochgezogene Wände umgaben ihn, in denen er gefangen war, gemeinsam mit den schrecklichen Bildern. Eine Bildergalerie, eine Ausstellung war dies, und er betrachtete sie. Keine Rechtfertigung, die er als Entschuldigung für sich selbst hätte in Anspruch nehmen können, wollte ihm einfallen. Er ging zur Bar, nahm sich eine Flasche Whisky und setzte sich neben den Tisch, an dem die Kartenlegerin kopflos wie ein ausgezogenes Püppchen blutgenässt saß und den eigenen Kopf in der Hand hielt. So, als wolle sie das Haar einer kunstvollen Perücke bürsten. Dann ließ er die Bilder Revue passieren und sah, wie er einen nach dem anderen getötet hatte. Sich selber sah er, und er schaute aus dem Fenster, während draußen die kleinen und großen Tornados tanzten und es schien, als würden sie nur auf ihn – Hennig - warten. In Gedanken sprach er mit ihnen. Er sprach über jene Zeit, während der er noch als Vertreter durch das Land zog, insgeheim von ihm gehasst. So gehasst wie der Eintopf, den er als Kind in sich hinein schaufeln musste - nur um danach die Erlaubnis zu bekommen, draußen spielen zu dürfen. Der Geruch dieses Eintopfes stieg ihm deutlich in die Nase, und es würgte ihn. ”Einen Schluck Whisky” dachte er. Nur ein einziger Schluck Whisky würde genügen, den unangenehmen Geschmack zu vertreiben. Plötzlich ging die Lokaltür auf, und eine Frau Mitte dreißig und ein Mann, etwa zehn Jahre älter, betraten die Raststätte. „Hallo” sagten sie zu Hennig und schauten sich um, um dann einen der freien Tische anzusteuern. „Sind Sie der Besitzer von Daystop Dansville,“ wollte der Mann wissen und schaute Hennig dabei freundlich an. „Nein”, sagte Hennig kurz und bündig und wunderte sich eher darüber, dass die neuen Gäste nicht sofort schreiend das Lokal verließen. Immerhin, es lagen hier einige Leichen herum. Hennig ging zur Wahrsagerin hinüber, ergriff ihren Kopf und fing an, damit wie ein Zirkusclown zu jonglieren. Dabei grinste er und sang ein obszönes Lied. Die Gäste wunderten sich zwar und begriffen nicht, wieso dieser alte Mann den hier als vermutliche Reisetrophäe ausgestellten Schrumpfkopf aufnahm, um mit ihm Kunststücke zu vollführen. Sie nahmen es aber als lustig hin und fingen zu applaudieren an. „Gut geschüttelt, nicht gerührt“, sagte der Mann und lachte, als sei das ein Witz. Ein weiteres Mal ging die Tür auf, und zwei Frauen im Alter von dreißig Jahren betraten die Bar. Eine von ihnen ging direkt zur Musikbox und drückte die Tastatur für ein Stück von Country Sänger Carl Smith. Smith war in den 1950er Jahren einer der erfolgreichsten Country-Sänger Amerikas mit zahlreichen Top Hits. Er kam, wie Hennig, aus Nashville in Tennessee. Und so spielte nun der Titel, Smith erster Nummer-eins-Hit: "Let Old Mother Nature Have Her Way" durch das Lokal und Hennig dachte: ”Ja, man kann die Natur nicht betrügen”. Er liebte diesen Song. Währendess erwachte Kitty in dem Gang, in den sie von Hennig gebracht worden war, und ein weiblicher Schwarzbär mit einem Gewicht von über 200Kilo und einer Größe von über zwei Meter stand, hoch aufgerichtet und zum Angriff bereit, einige Meter vor ihr. Kitty war kein sonderlich gescheites Wesen, aber ihr war klar, dass sie sich jetzt sehr ruhig würde verhalten müssen. Nur eine einzige unkontrollierte Bewegung würde ihren Tod bedeuten. Doch es war zu spät.

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