Là-bas

Bild von Dieter J Baumgart
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     Erinnerst du dich? An den Tag, da wir dich zum erstenmal besuchten? „Là-bas  –  da unten“, hatte uns Bürgermeister Villebrun den Weg gewiesen. Wir liefen wohl einige Male an dir vorbei. Denn daß du das kleine Haus warst, das auf dem gelben Notizzettel am Fensterladen eines buvette zum Verkauf stand, nein, das ahnten wir wirklich nicht. Und als wir es dann begriffen, dachten wir: Wie lustig, dieses schmale Handtuch, da kommt man ja nur mit dem Schuhanzieher hinein.
     Deine Augen waren dunkel, dein Mund verschlossen. Für dich waren wir zwei von vielen, die vorbeikamen und gingen. Nein, es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Ein Jahr verging, und wieder führte uns der Weg durch die schon vertraute Landschaft, in das kleine Dorf, in dem ihr, Schulter an Schulter, die Gruppen nur durch winzige Straßen und Stiegen getrennt, seit vielen hundert Jahren lebt.
     Ja, es gibt Häuser, die leben. Sie haben eine lange Geschichte. Und wen sie mögen, dem erzählen sie ihre Geschichte, ein Leben lang. Und manchmal darf man sie ein Stück des Weges begleiten. Behutsam, fast ohne daß sie es merken, bezieht ihr die Menschen, die euch lieben, in eure Geschichte ein.
     War es Zufall, daß der kleine gelbe Zettel noch immer am Fensterladen hing? Daß der Bürgermeister uns anbot, dich von innen zu betrachten? Daß du noch frei warst? Denn Tage später hättest du jemand anderen aufgenommen. Doch das wußten wir damals nicht. Monsieur Villebrun ermöglichte es uns, mit dir zu sprechen. Ganz traurig, aus spinnwebverhangenen Fenstern hast du uns angesehen. Zögernd sprachst du über deine Vergangenheit. Nein, eitel warst du nicht, deine Vorzüge waren kein Thema, über das du mit uns reden wolltest. Alte verrostete Gartenmöbel, ein riesiges, blechernes Reklamethermometer, lieblos in die Wandnischen geklatschte Bretterregale, grob verputzt. Drei Jahre alte Butter in der Anrichte, gleich alter Zucker ohne Süße, Gewürze ohne Aroma in den Regalen. Deine letzten Bewohner hatten dich vor Jahren, von einem Tag auf den anderen, verlassen. Warum, das mochtest du uns nicht erzählen. Hat es dich nicht interessiert? Was sind schon ein paar Jahre von fast tausend? Und doch haben auch diese Menschen ihre Spuren in deiner Geschichte hinterlassen: Einige wenige schöne, alte Möbel. Zwei Tische, eine Kommode, eine Chaiselongue, ein Stuhl. Und nicht zu vergessen, Kalanag, der Peddigrohr-Elefant mit dem aerodynamischen Gebiß und dem Tablett auf seinem Rücken. Ganz langsam, erst als du selbst zu neuem Leben erwachtest, wurden wir uns dieser Möbel bewußt, begriffen, daß sie zu dir gehörten.
     Was nun ließ uns nach dem zweiten Besuch in deinem Dorf, mit leuchtenden Augen und schwirrenden Gedanken im Kopf, in unser Zelt am See zurückkehren? Nun, zu erst einmal ganz profane Dinge. Du verfügtest über Wasser und Strom, Toilette und Dusche. Doch dann erahnten wir deinen Charme. Aus Rissen und Löchern in bauchigen Natursteinwänden blinzeltest du uns zu: Schaut her, fast mich an, gebt eurer Phantasie die Chance, mit mir zu spielen, laßt euch überraschen. Und wir haben uns überraschen lassen.
     Der erste Winter in deinen Mauern, einer der kältesten in der Gegend. Frühstück bei plus sechs Grad Celsius, der Kamin blies seinen Rauch durch geheime Ritzen in alle drei Zimmer, nur nicht in den Schornstein. Und am darauf folgenden Morgen  –  am Vorabend waren wir eingezogen  –  lag auf deinen Stufen ein riesiger Salatkopf. Vom Nachbarn gegenüber, der uns doch nur vom Erzählen kannte.
     Da wußten wir, daß unser Entschluß, in sommerlicher Urlaubsstimmung gefaßt, richtig war. So, wie du uns aufnahmst, nahmen uns auch die Menschen in deinem Dorf auf. Ohne großen Bahnhof, ganz still, zurückhaltend freundlich und mit ehrlichem Herzen. Im eisigen Winter umgab uns die Wärme nachbarlicher Freundschaft. Nie waren wir die ‘Fremden’ in deinem Dorf. Du hast es gewußt, nicht wahr? Wie hätten wir dich sonst mögen können.
     Erinnerst du dich an die ersten Abende? Umgeben von einigen Gas- und Elektroheizöfen hockten wir in Decken gehüllt um den rostigen Gartenklapptisch herum. Rotwein in den Bechern, Kerzen auf dem Tisch, Kartons, Lappen, Besen, Einrichtungsfragmente um uns herum. Unsere Gedanken wanderten die skurrile, schmale Treppe hinauf und wieder hinunter, spielten mit Ideen, wanden sich um Vorsprünge, kauerten in Nischen, entwarfen phantastische Bilder mit im Kerzenschein tanzenden Schatten. Licht ist Leben, du hast es uns gelehrt. Behutsam legten wir deine verborgenen Schönheiten frei. Und stets hattest du neue Überraschungen bereit. Der Dinge, der Bilder und Skulpturen, die wir einbrachten, nahmst du dich wie selbstverständlich an, warst auch ihnen Heimstatt.
     Wir bauten dir einen neuen Kamin, den ersten in unserem Leben, mit Zementmörtel, der viel zu schnell abband. Mit einer Hand ständig rühren, mit der anderen auftragen. Einen von uns hörtest du häufig fluchen. Aber nach zwei Jahren war er fertig, der Kamin. Und wenn das Feuer brennt, sauber und gleichmäßig bei jeder Witterung, dann ist es dein flammendes Herz, das da schlägt und uns wärmt.

Veröffentlicht / Quelle: 
Flugenten - 19 unordentliche Geschichten (Buch)

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