Oliver

Bild zeigt Dieter J Baumgart
von Dieter J Baumgart

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     „Gute Nacht, Swantje.“

     „Gute Nacht, Mami, schlaf schön!"

     „Danke, du auch.“

     Ein Tag ist vergangen. Ein Tag voller neuer Erfahrungen, in der Schule, auf dem Spielplatz und Zuhause. Nebenan, im Wohnzimmer teilt die große alte Uhr die Zeit in Sekunden ein. Langsam und stetig: „Tick – tack – tick – tack –.“
     Die Wasserschildkröten Pim und Pam plätschern leise in ihrem Aquarium, und Oliver, Swantjes Lieblingshase, sitzt wie immer auf dem Bücherbord. Draußen vor dem Haus spielt der kühle Nachtwind mit dem Herbstlaub, dreht es zu kleinen Haufen, um sie sogleich wieder auseinanderzutreiben. Hier und da zupft er ein loses Blatt von den Zweigen der Bäume. Dann löst sich auch ein Schatten am Boden  –  und beide eilen aufeinander zu.
    
     „Weiter so –”, raunt der Wind, während der Mond sanft und voller Hingabe die Bilder der Nacht zeichnet. Und es ist der Wind, der die Geschichten dazu erzählt. Es ist auch der Wind, der die Vorhänge in Swantjes Zimmer zur Seite weht. Und es ist der Mond, der mit silbernem Strahl die Reihe der Bücher auf dem Regal abtastet und schließlich – wie zufällig – an Olivers Nasenspitze hängenbleibt.
     Und da scheint es, als bewege sich der Hase.
     Ja, tatsächlich, jetzt steht er auf, wendet sich ganz langsam dem schlafenden Mädchen zu und setzt sich am Kopfende des Bettes auf den Boden. So langsam hat er sich bewegt, daß der silbrige Schein des Mondes immer noch auf seiner Nasenspitze ruht und sich in den großen, braunen Augen widerspiegelt. Aufmerksam betrachtet er das Gesicht der Schlafenden, während im anderen Zimmer die Uhr tief Luft holt, um die neunte Stunde zu schlagen. Und dann, ganz plötzlich, der letzte Ton schwingt noch im Raum, ist Oliver mittendrin in Swantjes Traum.

     „He, Oliver“, ruft sie verwundert, „was machst du hier?“

     „Och, ich will mal gucken, was du so alles träumst ...“

     „Ich träum’ ja gar nicht, ich seh’ dich doch!“

     „Ach ja –   natürlich“, meint Oliver nur und reckt sich, denn das kann er mit seinen langen Armen und Beinen besonders gut.

     „Uff“, streckt sich auch Swantje, „das war heute aber ein anstrengender Tag!“

     „Ach nee, wo hast du dich denn so angestrengt?“

     „In der Schule!“

     „Na, sicher doch“, grinst Oliver, „im Rechnen hast du aus den Nullen lauter kleine Hasen gemacht.“

     „Oliver, du bist gemein! Sag’ mal, woher weißt du das eigentlich?“

     „Na, ich war doch dabei –. In deinen Gedanken, meine ich.“

     „Du, das versteh’ ich nicht. Bist du immer dabei, wenn ich an dich denke?“

     „Ja, immer...“

     „Auch letzte Woche, als ich mich in der Stadt verlaufen hatte? Da hab’ ich nämlich auch an dich gedacht. Und dann hab’ ich das Geschäft gefunden, weißt du, wo ich dich zum erstenmal sah. Und dann wußte ich den Weg wieder. Und da warst du auch dabei?“

     „Ja, ich habe dir geholfen, den Weg zu finden.“

     „Danke, Oliver, das war lieb von dir!“

     „Du, Oliver?“

     „Hmmm?“

     „Erzählst du mir eine Geschichte?“

     „Was denn für eine?“

     „Och, irgend eine lustige – aus deinem Leben. Magst du? Aber nicht spinnen, wie die Tina. Die erzählt immer Sachen, die gar nicht wahr sind!“

     „Alle Geschichten sind so lange wahr, wie man an sie glaubt. Und Tina glaubt an ihre Geschichten.“

     „Oliver, das versteh’ ich wieder nicht!“

     „Weißt du, Geschichten sind wie gute Freunde. Sie werden aus Gedanken gemacht, und sie helfen denen, die an sie glauben.“

     „Aber eine Geschichte, die nicht wahr ist, ist doch eine Lüge  –  oder nicht?“

     „Wenn jemand eine Geschichte erzählt, an die er nicht glaubt, dann ist das eine Lüge.“

     „Und deine Geschichten sind alle wahr, Oliver?“

     „Ich glaube an meine Geschichten.“

     „Oliver?“

     „Hmmm?“

     „Erzählst du mir jetzt eine Geschichte?“

     Und da sortiert Oliver seine langen Arme und Beine, kuschelt sich in die Ecke und schaut Swantje nachdenklich an.

     „Eine Geschichte –“, beginnt er schließlich, „eine Geschichte... Ja, es ist seltsam, es hat mit dem Wind zu tun... Mit dem Wind und dem Mond... Und es ist lange, sehr lange her. Ich war noch ganz klein  –  wohl erst ein halbes Jahr alt  –  und wir hatten einen schönen Sommer gehabt. Die Sonne schien oft, und am Himmel waren weiße Wolken, die sahen manchmal wie kleine Hasen aus. Und dann wünschte ich, ich wäre es selbst  –  da oben  –  und könnte hinunter schauen auf die ganze, weite Welt, bis zum Meer. Denn irgendwo ist das Meer. Ich habe es nie gesehen, aber manchmal kann ich es riechen.
     Das Gras stand hoch, viel höher als ich, und zwischendrin blühten die schönsten Blumen. Ganz kleine, niedrige, und auch große in allen Farben. Die Bienen summten, und wunderschöne Schmetterlinge breiteten ihre Flügel aus und tauchten ihre langen Saugrüssel in die Blütenkelche. Ich habe viel gelernt in dieser Zeit, von den Blumen und von den Bienen... Aber ich war ja auch noch sehr jung, und es gab so vieles, was ich noch nicht wußte, daß es mich immer wieder überraschte, wenn ich neue Zusammenhänge entdeckte. Ja  –, und von einer solchen Überraschung kann ich dir erzählen.
     Es beginnt damit, daß ich eines Morgens wach werde. Aber nicht, weil die Sonne mich mit ihrer Wärme weckt, sondern weil es so kühl ist, und der Wind in den Bäumen so seltsam rauscht. Weißt du, anders als sonst; nicht mehr weich und zärtlich, eher mehr in der Art wie Wasser rauscht. Am Tag vorher war ich noch durch den Wald gelaufen, über die duftenden Moospolster gestolpert und hatte die Bäume in ihrem goldfarbenen Blätterkleid bewundert, das in der Abendsonne erglühte. Ich muß wohl im Laufen eingeschlafen sein, denn jetzt

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