Oliver - Page 2

Bild zeigt Dieter J Baumgart
von Dieter J Baumgart

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werde ich mitten im Wald wach. Ich öffne die Augen und schaue zu den Bäumen hinauf, denn irgend etwas ist anders an diesem Tag. Es ist nicht nur der böige Wind, unter dem sich die Bäume wie unter einer schweren Last biegen. Und die ungewohnte Kühle und dieses andere Rauschen. Nein, es ist  –  und ich traue meinen Augen kaum  –  es sind die Blätter! Sie fallen von den Bäumen. Alle die schönen Blätter fallen von den Bäumen! Gerade jetzt, wo sie so hübsch bunt sind...
     Wie schade, denke ich. Das macht bestimmt der Wind; rücksichtslos rupft er sie von den Bäumen.
Und ich rufe ganz laut: „He, Wind, du reißt die Blätter ab! Hör auf, du tust den Bäumen weh!“

     Aber der Wind hört mich nicht. Er kann mich auch nicht hören, weil er viel zu laut ist. Und immer mehr Blätter fallen herunter. Die Wolken ziehen ganz schnell über den Himmel, zerrissen vom Wind. und überall verbreitet sich Hast und Eile. Weißt du, so ganz eigenartig; du siehst es nicht, aber du spürst es. Es ist so, als ob die Zeit plötzlich viel schneller geht, weil sie Angst hat, stehen zu bleiben. Die Bienen sind weg, und auch die Schmetterlinge können dem Wind, der fast schon ein Sturm ist, nicht standhalten. Da sehe ich Felix, das Eichhörnchen, durch die Blätter hüpfen.
     Und ich sage: „Du, Felix, was ist los? Der Wind reißt die Blätter ab, er tut den Bäumen weh. Kannst du sie nicht wieder dran machen?  Du bist doch immer da oben...“

     Und Felix antwortet: „Keine Zeit, keine Zeit, muß Futter suchen. Es wird Herbst  –  Herbst...“

     „Herbst“, frage ich, „was ist das?“

     Aber Felix ist schon wieder weg. Und immer mehr Blätter fallen auf die Erde. Der Wind dreht sie im Kreis und wirbelt sie wieder in die Höhe.
     Und ich schreie: „Wind, hör auf  –! Du reißt die Blätter von den Bäumen, um mit ihnen zu spielen. Das ist gemein!“

     Da hört er mich.

     „Was willst du“, flüstert er leise, „die Blätter sind lose. Sie fallen einfach ab.“

     „Aber warum?“ Frage ich.

     Doch da fegt er schon wieder davon. Und noch immer fallen Blätter von den Bäumen. Der Boden ist schon ganz voll und es raschelt, wenn ich laufe. Jetzt wird es auch dunkel; aber ich kann nicht schlafen. Es ist nun ganz still. Der Wind hat aufgehört; nur gelegentlich streicht er über die Anhöhe jenseits der Lichtung. Dann hört es sich an, als ob es der Berg ist, der tief und gleichmäßig atmet. Wenn ich ganz genau hinschaue, dann meine ich zu sehen,  wie er sich kaum merklich hebt und senkt.     Dann geht der Mond auf. Er schaut mich durch die Bäume an, die nun schon bedeutend weniger Blätter haben.
     „Oliver“, sagt er zu mir, „warum schläfst du nicht?“

     „Ich kann nicht“, sage ich. „Mond, du mußt mir helfen. Was ist ‘Herbst’? Warum fallen die Blätter von den Bäumen? Der Wind...“

     „Ich weiß es nicht“, sagt er, „aber es ist die Zeit dafür.  –  Bald ist alles weiß  –  der große Schlaf...“

     „Wie meinst du das“, rufe ich, „werden die Blätter weiß? Schlafen sie nur aus und sind dann wieder an den Bäumen? Und was machen die Bäume in der Zeit? Sie werden frieren, es wird kalt...“

     „Ich weiß es nicht“, sagt der Mond leise.

     Und es hört sich an, wie „ich weiß...“, denn seine letzten Worte werden schon vom Wind übertönt, der zurückgekehrt ist, oben in den Bäumen rauscht und schließlich eine große Wolke vor den Mond schiebt, als ob er sagen will: „Laß es gut sein, alter Freund. Der Kleine da unten, der versteht dich doch nicht...“

     Aber ich möchte es gern verstehen, denke ich. Dann schlafe ich ein. Tage später treffe ich Pix, den Igel. Er ist gar nicht so fröhlich wie sonst, auch nicht traurig, einfach nur langsam und träge. Müde schiebt er sich durch die Blätter, und wo der Wind große Haufen zusammengeschoben hat, bleibt er stehen und guckt.

     „Pix“, sage ich, „weißt du...“

     Er hört mich nicht. Anscheinend ist er im Stehen eingeschlafen. Ich rufe lauter: „Pix! Was ist mit dir?“

     Langsam, ganz langsam dreht er sich um und schaut mich mit seinen Knopfaugen unwillig an.
„Was willst du? Ich bin müde  –  so müde...“, gähnt er.

     „Bitte, Pix, sag’ mir, warum fallen alle die schönen Blätter ab?“

     „Die Blätter?“ nuschelt er, „oh, die sind schön warm... Aber ich bin müde; laß mich in ruh'...“

„Bitte, Pix...“

Aber da verschwindet er einfach im Blätterhaufen zwischen den Wurzeln einer großen Buche und ist weg.
     Die Tage vergehen und bald sind alle Blätter von den Bäumen gefallen. Sie sind auch nicht mehr so schön bunt. Grau und zerknittert sehen sie aus. Weißt du, und da sehe ich ein, daß es wohl gar keinen Sinn gehabt hätte, wenn Felix die Blätter wieder drangemacht hätte. So schön wie vorher würden sie wohl nie mehr werden. Aber niemand sagt mir, warum das so ist.
     Und dann treffe ich eines Nachts Thora, die Eule. Thora ist sehr klug. Sie sitzt auf einem dicken Ast, und obwohl der Mond nicht scheint, kann ich sie gut sehen. Denn an den Bäumen sind nun gar keine Blätter mehr, und schwarz hebt sich Thora gegen den Himmel ab.

     „Thora“, rufe ich leise, „Thora, bist du wach?“

     Ich habe Angst, sie im Schlaf zu stören. Aber da sehe ich, daß ihre Augen geöffnet sind. Bei Tage sind sie gelb; aber bei Nacht sind sie schwarz, noch schwärzer als der übrige Körper.

     „Oliver  –“, raunt sie, „du bist noch auf?“

     „Thora“, sage ich, „du bist sehr klug. Du mußt mir helfen. Warum fallen die Blätter ab? Die Bäume frieren. Es ist kalt!“

     „Warum fragst

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