Saatgut

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von Heide Nöchel (noé)

Mein Schwager ist schwarz. Aber nur äußerlich. Innerlich ist er eher pastellig. Er ist unglaublich lieb. Zu allen, nicht nur zu seiner Frau und der gemeinsamen Tochter. Ein sanfter Riese.

Aber so dunkel wie seine Stimme und seine Haut sind, so dunkel wird auch sein Gemüt, je länger er hier in Deutschland lebt. Er wird immer depressiver und kapselt sich mehr und mehr ab. Sich draußen sehen zu lassen, vermeidet er weitgehend. Da ist es fast ein Segen, dass er einfach keine richtige Arbeit finden kann.

Nun ja, er wollte in dem selben Naturkostladen arbeiten wie meine Schwester. Aber die Gesellschafter der GmbH hatten Angst, dass sich die finanziell potenten Kunden erschrecken könnten vor so viel Schwärze. Er könnte ja im Keller auspacken?! Ach nein, dann müsste er von Zeit zu Zeit nach oben kommen und das möglicherweise ganz unvermutet.

Jetzt hat man eine Lösung gefunden. Abends um zehn geht er in die Backstube und setzt den Teig an für das Brot nach hauseigenem Rezept. Er knetet und wirkt und lässt vielleicht einen Teil seines Frustes in dem Teig. Die Kunden sehen ihn nicht, nicht seine schwarzen Hände, die sich den Teig untertan machen, der dann, gebacken und geschnitten, häppchenweise in deutschen Mündern verschwindet. In Mündern von finanziell potenten Kunden, die sich vor so viel Schwärze erschrecken könnten.

Der Naturkostladen ist weit über die örtlichen Grenzen hinaus berühmt für die Qualität seines Brotes.

Einmal ist mein Schwager in dem Dorf in der Lüneburger Heide, in dem sie damals wohnten, auf offener Straße verhaftet worden. Er habe einen Laden ausgeraubt und den Besitzer mit der Waffe bedroht, hieß es, gerade vor einer halben Stunde. Der schüchterne und stille Mann wusste gar nicht, wie ihm geschah und konnte sich sprachlich auch nicht recht verständlich machen. "Ich habe nix gemacht" nützte ihm wenig. Er MUSSTE es gewesen sein, schließlich war er genauso schwarz wie der Täter und der einzige Schwarze weit und breit.

Der Ladenbesitzer wurde geholt und beguckte ihn von oben bis unten und wieder zurück. Er kratzte sich am Hinterkopf und sagte: "Tja..." Dann beguckte er ihn nochmal und meinte: "Kann schon sein." Aber noch zögerte er. Dann: "Heb' mal die Hosenbeine!" Mein Schwager tat wie geheißen, und das war sein Glück, denn der Überfallene verkündete mit fester Stimme: "Nein, der kann das nicht gewesen sein. Der hatte andere Socken an!" Worauf mein Schwager freigelassen wurde.

Er traut sich immer seltener auf die Straße und alleine schon gar nicht mehr.

Vor ein paar Jahren besuchten sie uns. Wir tigerten durch die Altstadt von Koblenz, ließen uns von den Auslagen inspirieren und waren gut gelaunt und ausgelassen. Wir blieben hier und da stehen und gaben unsere Kommentare.

Am Spätnachmittag waren wir auf der Höhe des Mata Hari und schauten uns draußen die in den Schaukästen ausgestellten Bilder der dort aktuell engagierten Band an. Es war sonnig, so dass wir die misstrauischen Augen aus dem dunklen Inneren erst bemerkten, als sie schon ganz nah der einladend geöffneten Tür waren.

Ein Mädchen schaute uns an, die Hand am Türgriff, dann musterte sie meinen Schwager von oben bis unten, zog die Mundwinkel runter und die Tür energisch zu. Wir versuchten, die Situation zu überspielen, aber die fröhliche Stimmung war dahin.

Fast war ich froh, als sie aus organisatorischen Gründen den für diesen November angekündigten Besuch in Koblenz absagen mussten. Ein paar Tage vorher waren zwei Chinesen von fünf Unbekannten krankenhausreif geprügelt und getreten worden, und einer Mulattin hatten Skinheads in der belebten Fußgängerzone am helllichten Tag das Gesicht zerschnitten...

Mein innerlich grummelndes ungutes Gefühl erfuhr Verstärkung durch den Verzweiflungsruf meiner in Italien geborenen und in Deutschland aufgewachsenen Tochter: "Mama, MÜSSEN wir hierbleiben? Am liebsten möchte ich auswandern!"

Die Tränen in ihren Augen sind so nachvollziehbar! Nach unserer "Rückkehr" nach Deutschland, als sie drei Jahre alt war und das Wenige, das sie sprach, Italienisch war - weshalb sie "Spaghettifresser" gerufen wurde, was sie jeweils mit "Hmmm, lecker!" quittierte - schlich sich ein etwa Zehnjähriger von hinten an mein alleine in der Sandkiste spielendes Kind an und würgte es mit beiden Händen. Nur, weil ich hinter der Gardine stand und das Fenster aufriß, konnte Schlimmeres verhindert werden.

Zwei Nachsätze aus dem Jahr 2015:
Nr.1
Mein Schwager ist nach Florida zurückgegangen, um dort sein schweres Herzleiden behandeln zu lassen. Vor einigen Jahren ist er "nach langer Krankheit" verstorben, ohne Deutschland je wiedergesehen zu haben. Meine Schwester zieht ihre beiden bildschönen Töchter alleine groß, in Deutschland. Mein Patenkind, die Älteste, hat ein Kunst-Studium beendet und eine Ausbildung zur Goldschmiedin angehängt. Die jüngere, Patenkind meines Bruders, tendiert seit frühester Kindheit ebenfalls in die Designer-Richtung.

Nr. 2:
Meine Tochter ist - bisher - in Deutschland geblieben und inzwischen mit einem Inder verheiratet, den sie kennengelernt hatte, während er in Frankreich studierte. Geheiratet haben sie übrigens in Dänemark innerhalb von einem Tag, nachdem das in Deutschland zwei Jahre zuvor an den vielen bürokratischen Hürden gescheitert war. Seine Mutter ist zu diesem Ereignis eigens aus Indien angereist, wir beide Mütter wurden Trauzeugen. Mittlerweile sind die Jungverheirateten auf dem Weg, Eltern zu werden und darüber sehr glücklich.
Die "Omas" auch. :o))
(noé)

© noé/1991 Alle Rechte bei der Autorin.

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