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draußen kommen würde.
Ich stieg aus dem Fenster über das Dach, sprang gute zwei Meter tief in die Büsche und lief dann so schnell ich konnte weg. Diese Leute waren verrückt. Einfach verrückt, so etwas konnte ich doch nicht mit mir machen lassen. In der Stadt kaufte ich mir neue Klamotten, denn meine waren dreckig nach dem Sprung. Ich sah wohl ziemlich durch den Wind aus. Dann machte ich mich auf den Weg nach Hause, etwas ängstlich, ob meine Frau mir meine Ausrede abkaufen würde. Sie war nicht zu Hause, anscheinend holte sie meinen Sohn gerade von der Schule ab, oder so etwas in der Art.
Ich hoffte einfach nur, dass dieses verdammte Therapiezentrum nicht bei uns anrufen würde, denn ganz egal von welchen Methoden ich meiner Frau auch erzählen würde, sie würde mich wegschicken und ich hätte keine Chance mehr ein Teil der Familie zu sein.
Als sie nach Hause kam, war sie natürlich verwundert mich zu sehen. „Was machst du hier so früh, Papa?“, fragte mein Sohn, aber meine Frau schickte ihn direkt ins Zimmer. „Lukas bitte geh auf dein Zimmer, ich und Papa müssen reden.“ Sie war nicht begeistert und ging anscheinend davon aus, dass ich die Therapie abgebrochen hätte.
„Warum, Andreas, warum?“, fragte sie und schien den Tränen nahe zu sein. „Franziska keine Angst, das ist Teil der Therapie, ich soll mich heute bei euch entschuldigen und euch über meine Fortschritte unterrichten.“ „Und später gehst du wieder zurück?“ Mir drehte sich der Magen um bei der Vorstellung, aber ich konnte natürlich nicht sagen, dass ich hier bleiben würde, so schnell fiel mir keine Erklärung ein. „Ja, ich gehe später wieder hin, ich soll nur bis heute Abend hier sein, um euch auf dem Laufenden zu halten.“
Sie nickte und schien nun etwas entspannter. Es tat gut etwas Zeit mit meiner Familie zu verbringen; vor allem nach dem gestrigen Tag war es irgendwie ein profundes Gefühl fest in der Welt verankert zu sein.
Abends musste ich dann natürlich gehen und verabschiedete mich wieder. Ich mietete mich für die restliche Zeit in ein Hotel ein. Es würde zwar einiges kosten, aber das war mir egal. Was in dem Zentrum passiert war, ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.
Aber es hatte gewirkt: Allein beim Anblick von einem Getränk mit Alkohol oder auch von Schokolade mit Alkohol wurde mir übel. Ich konnte mich gar nicht dagegen wehren, so tief war es schon in mir verankert. Ich hoffte einfach nur die ganze Zeit, dass das Therapiezentrum nicht anrufen oder sich anders melden würde, auch wenn ich nicht wirklich daran glaubte.
Nach ein paar Tagen ging ich dann wieder zurück nach Hause, ängstlich, natürlich, und darauf gefasst, gleich alles zu verlieren. Aber im Gegenteil. Anscheinend hatte niemand angerufen. Ich wurde von meiner Frau und meinen Kindern willkommen geheißen und fing auch bald wieder zu Arbeiten an. Und das ohne Alkohol. Mir ging es besser, viel besser als vorher und ich war glücklich endlich alles auf die Reihe zu bekommen. Auch wenn ich die Therapie abgebrochen hatte, hatte sie geholfen.
Bei der Arbeit stieg ich auf und insgesamt war mein Leben sehr viel besser. Ich verriet niemandem, dass ich mal Alkoholiker war und schaffte es gut mich um jede Kneipentour herumzudrucksen.
Das ging gut bis zu einer Weihnachtsfeier ein Jahr später. Ich hatte ein alkoholfreies Bier bestellt, aber irgendwer hatte Mist gebaut und mir eines mit Alkohol gebracht. Ein winziger Fehler, der in der Regel nicht weiter erwähnenswert gewesen wäre, aber bei mir war er schlimm.
Es erinnerte mich daran, erinnerte mich an den Sinn und Geschmack des Deliriums. Aber ich wollte standhaft bleiben, wollte mir beweisen, dass ich es unter Kontrolle habe.
Den nächsten Monat trank ich kein bisschen und als der Monat vorbei war, dachte ich, dass ich es wieder unter Kontrolle hätte, dass ich damit wieder leben könnte. Ich trank ab und an mal ein Bier mit Kollegen und das ging auch gut, bis zu einem Punkt. Es war der dritte März. Der Tag an dem ich meinen Job verlor. Wegrationalisiert. Nicht mehr nötig.
Es war der Tag an dem ich einen richtigen Rückfall hatte. Ich ging in eine Bar und trank und trank und trank. Ich kann mich nicht erinnern wie viel ich getrunken hatte, aber es war eine Menge. So viel, dass ich am nächsten Morgen völlig verkatert und verwirrt neben nackter Haut mittleren Alters aufwachte. Ich wusste nicht wer sie war, kannte nicht mal ihren Namen, aber ich fühlte mich schuldig. Wir lagen in einem billigen Hotelzimmer, richtig klischeehaft.
Ich machte ihr klar, dass sie verschwinden müsste und war dann erst einmal allein. Ich hatte meinen Job verloren, meine Frau betrogen, war sogar immer noch betrunken. Mich durchzog eine Angst. Eine richtig tiefe existenzielle Angst.
Ich duschte, zahlte das Hotelzimmer und ging in die Stadt, um mir neue Klamotten zu besorgen. Und Pfefferminz. Dann mit dem Bus nach Hause. War auf nichts gefasst, hatte eher so ein ich-bringe-das-jetzt-hinter-mich Gefühl.
Als ich an der Eingangstüre bei meinem Haus stand, wusste ich nicht, wie ich mich erklären sollte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Und drinnen hörte ich ein Wimmern. Meine Frau wusste sicher schon, dass ich rückfällig geworden war. Ich schloss die Tür auf, schritt hindurch und schloss sie wieder. Im Wohnzimmer war niemand. Auch in der Küche war niemand. Es war noch früh, die Kinder waren also nicht da, aber meine Frau musste da sein – ich hatte doch das Wimmern gehört. Dann wieder, es kam aus dem Schlafzimmer.
Ich hatte viel erwartet, doch was ich vor mir sah, war wie ein Albtraum. Meine Frau lag auf dem Boden, blaue Flecken über dem Körper verteilt. Aus ihrer Nase tropfte Blut. Fassungslos ging ich zu ihr und versuchte sie so gut es ging zu beruhigen. „Was ist passiert? Wer hat...?“ „Da war ein Mann. Er sagte, dass er mit dir sprechen müsste und ist dann einfach reingekommen. Er hat... Er hat...“ Sie schluchzte und Rotz vermischte sich mit Blut und Wasser. „Wer war es? Wer hat dir das angetan?!“ „Ich weiß es nicht, dass ging alles so...“ „Kannst du dich an irgendetwas erinnern?“ „Eine Narbe – auf seiner Wange.“ Ich erstarrte. Das konnte nicht sein. Ich stand auf. „Ich bin gleich wieder da.“ „Andreas – warte... lass mich nicht allein.“ „Ich bin gleich wieder da“, sagte ich und nur einen halben Gedanken später fiel die Tür hinter mir ins Schloss.
Ich stieg in das Auto und fuhr los, war immer noch halb betrunken, aber das Adrenalin in meinen Adern ließ mich konzentriert fahren und pumpte jegliche Betrunkenheit aus meinem Körper.
In die Stadt. Da wo alles begonnen hatte, da wo es endlich ein Ende finden würde!
Ich parkte halb auf der Straße, öffnete die Türe und hastete die Treppe nach oben. Wieder zu dem Zimmer. Wütend warf ich die Tür auf. Dort saß er. Kopfschüttelnd. „Warum hast du das meiner Frau angetan?!“, schrie ich fast und sprang auf ihn zu, aber ich stoppte einen halben Meter vor ihm, weil ich etwas blitzendes in seiner Hand sah. Eine Waffe. Eine Pistole.
Erschrocken wich ich zurück und schluckte. „So. Ich hatte mir mehr erhofft. Ganz ehrlich“, sagte er. „Was hast du meiner Frau angetan? Warum?“ „Deine Therapie geht weiter. Du kannst nicht einfach abbrechen. Du warst wieder betrunken.“ „Du kannst doch nicht meine Frau verprügeln, weil ich...“ „Still jetzt. Natürlich kann ich das. Was sagtest du mir bei unserem ersten Gespräch – du hast deine Kinder angeschrien, deine Frau geschlagen. Ich hab das alles einfach ein wenig verkürzt. Uns allen etwas Zeit gespart.“ „Das ist krank.“ „Halt deine FRESSE“, spuckte er aus und zielte mit der Waffe auf mich. „Du bist so ekelhaft. Ich mach das jetzt seit sicher zehn Jahren und wir hatten schon harte Fälle, aber was du bist...“ er schüttelte den Kopf „Du gehörst zum ekelhaftesten Abschaum, der mir je untergekommen ist. Nicht einmal für deine Familie kannst du mit dem Trinken aufhören und du bist längst auf einem ganz anderen Level. Letztes Mal hast du deine Kinder angeschrien, deine Frau geschlagen. Jetzt gehst du fremd. Du hast komplett die Kontrolle verloren“, er schritt auf mich zu, hielt mir die Pistole an den Kopf und zwang mich auf die Knie. „Ich sollte das hier und jetzt beenden. Weißt du? Du bist auf einem ganz anderen Level. Es ist nur noch ein Schritt, bis du deine Frau häufiger verprügelst und deine Kinder schlägst oder was weiß ich machst. Du bist die Scheiße, in die man nicht treten will. Du bist ein Parasit, der durch die Güte und Liebe seiner Mitmenschen überlebt. Ich sollte das hier und jetzt beenden. Aber ich werde dich nicht töten.“ Er nahm die Waffe von meinem Kopf. Tränen rannen über meine Wangen, als mir bewusst wurde, dass er mit allem Recht hatte. „Ich bin Therapeut. Ich bin da um dir zu helfen. Und das muss dir klar sein.“
Er schüttelte den Kopf ein weiteres Mal und ging zum Schreibtisch. Zog einen Gegenstand heraus.
„Deine Therapie fängt hier an oder sie endet hier. Nichts dazwischen. Nichts sonst.“ Ich schloss die Augen, als ich den Gegenstand in seiner Hand sah und meine Tränen liefen über meine Wangen. Ich hatte Angst. Ich fühlte mich wertlos. Ich war nur ein wertloser Haufen Dreck. Ich betete. Ich weiß nicht mehr für was. Ich schluckte und öffnete die Augen.
„Deine Therapie beginnt oder sie endet. Hier und jetzt.“
Seine linke Hand war ausgestreckt, um mir aufzuhelfen, in der rechten Hand lag ein Strick.