Sie kamen mit dem Wagen die Serpentinstraße herab. An dem alten Leuchtturm, der seit Jahren nicht mehr besetzt war, verlangsamte der Mann den Wagen, doch die Frau deutete ihm an, dass er weiter fahren solle. Unten im Tal erreichten sie schließlich den Strand, hinter dem der Fluss nur zu erahnen war.
Auf dem schwarzen Samtüberzug der Wellen wogte der silberne Streif des Mondscheins. Von Norden her kämpfte ein Frachter sich durch die Strömung und der scharfe Bug durchschnitt mitleidslos das Band des Mondlichts. Das Schiff war unbeladen und lag hoch im Wasser. Es mochte von der Nordsee herunterkommen und nun die Elbe hinab seinem Heimathafen zusteuern.
Auf dem Kamm der Bugwelle türmten sich weiße Wasserperlen auf und erst als sich der Schiffsrumpf verbreiterte, verloren sie ihre Farbe und stürzten zurück in die Wellen. Schließlich ertasteten sie wie Schiffbrüchige das Ufer des Strandes.
In den Sommermonaten standen hier Tische und Stühle für die Ausflügler. Für wenige Stunden kamen sie aus der Stadt die Serpentinstraße herunter. Dann saßen sie in der Spätsommersonne und tranken Kaffee oder Hugo, während die Frachtschiffe weiterhin ihre Passagen durch die Elbe suchten. Nun jedoch, im Winter, kam niemand. Die Möbel waren eingelagert worden und der kleine Strand sah so verlassen aus wie eine Sandbank.
Auf der gegenüber liegenden Seite der Straße aber lag das Lokal und die Frau wies den Mann an, davor zu halten. Es war ein kleines Haus. Bereits über dem Erdgeschoss begann das schieferbedeckte Schrägdach. Die Fassade bestand aus Backstein, war jedoch weiß verputzt worden und nur die drei Kreuzfenster wirkten in ihrer Schwärze wie lästige Schmutzflecken.
Von der Straße aus ließ sich immer noch die Weihnachtsdekoration an den Fenstern erahnen. Die Eiskristalle auf den Außenscheiben hingen wie Gazevorhänge darüber und bedeckten das Lokal in seinem Winterschlaf.
Der Wagen hielt vor der Eingangstür. Auf dem blauumrandeten Emailleschild darüber war „Kathys Kate“ zu entziffern und die Farbe war noch so frisch wie der eisige Wind, der von dem Fluss zu ihnen herüber trieb. Die Frau sprang aus dem Wagen und sie kicherte leise, als sie den Schlüssel ins Türschloss steckte. Der Mann folgte ihr.
„Mach schnell, es ist kalt“, sagte er und drängte sich dicht hinter sie.
Das Innere des Lokals lag irgendwo in der Finsternis. Als die Frau jedoch den Lichtschalter neben der Tür anknipste schien es, als flammten die Scheinwerfer des alten Leuchtturmes auf und der Mann hob schützend seine Hand vor die Augen.
„Gleich wird es besser“, sagte die Frau.
Gegenüber der Eingangstür lag die Bar und die Frau eilte dahinter und drückte auf einen Knopf.
„Schalte das Licht aus“, sagte sie zu dem Mann.
Die Deckenbeleuchtung erlosch und das Licht der Wandleuchter glimmte nun weicher. Der Mann nahm die Hand von den Augen.
Nun sah er, dass der Raum kaum groß genug für die Bar und vier runden Tischen war, die sich rechts davon an die Wand schmiegten. Mit der Inneneinrichtung hatte die Frau sich viel Mühe gegeben. Die Wände waren ebenso weiß gespachtelt wie die Außenfassade und am Deckenabschluss hatte sie Stuckornamente anbringen lassen. Ringsum im Raum hingen kleine Wandregale, auf der die Frau Bilder und Erinnerungsstücke gestellt hatte und dem Lokal eine persönliche Note gab.
Von der Bar aus konnte die Frau hinüber zum Fenster blicken und sie sah schemenhaft die Elbschiffe wie durch Milchglas, dass sie wie riesige Buddelschiffe wirkten. Dann wandte sie ihren Blick wieder dem Mann zu und beobachtete ihn.
„Im nächsten Jahr werde ich mehr Blumen in Terracotta Amphoren aufstellen. So hoch, dass selbst du darüber nicht mehr hinwegblicken kannst“, sagte sie.
„Wird es nicht zu eng?“ fragte der Mann, aber die Frau lachte und griff unter den Tresen. Sie zog eine Flasche Garofoli hervor und entwickelte den Korken.
„Setz dich“, sagte die Frau und der Mann überlegte, welchen Platz er sich aussuchen sollte.
In der vergangenen Woche waren die Temperaturen noch einmal gefallen und draußen war es nun klirrend kalt geworden. Aber nicht in dem Lokal. Am Morgen hatte die Frau die Heizung weiter aufgedreht und nun war es in der Gaststube so warm wie in einer lauen Sommernacht in Rom. Es passte zu einer Trattoria, die die Frau sich immer gewünscht hatte.
Die Frau nahm zwei Weingläser von dem Tresen und spülte sie unter Wasser ab. Inzwischen hatte der Mann den Tisch am Fenster gewählt und blickte hinaus.
„Gefällt es dir?“ fragte die Frau.
Der Mann wandte sich zu ihr um und begriff, dass sie das Lokal meinte.
„Sie ist wundervoll“, sagte er und lächelte dabei. „So etwas hätte ich hier nicht vermutet.“
„Ich wollte sie dir wenigstens einmal zeigen.“
Die Frau sah zu dem Mann hinüber. Er war so groß, dass er wie auf einem Kinderstuhl wirkte. Alles hier mochte zu klein für ihn zu sein, doch nicht für sie. Aber das wusste er noch nicht.
Die Frau goss den Garofoli in die Gläser. Im Schein der Wandlichter glitzerte er rubinrot und als die Frau zum Tisch hinüberging, schwappte er an die Glaswand wie die Wellen der Elbe.
Die Frau reichte dem Mann den Wein und setzte sich dann ihm gegenüber an den Tisch. Der zarte Klang der anstoßenden Gläser vibrierte durch den Raum. Als der Mann seinen Wein auf den Tisch zurück gestellt hatte, sagte er:
„Das machst du jetzt also.“
„Das mache ich“, sagte sie und malte mit ihrem Fingernagel Kreise auf den Glasfuß.
Der Mann sah an ihr vorbei hinüber zur Bar und die Frau tat so, als würde sie es nicht bemerken.
„Kannst du denn davon leben?“ fragte er nach einer Weile.
Jetzt musste die Frau lachen. Sie schob das Glas ein Stück weiter auf den Tisch und stand auf.
„Besuch mich einmal im Sommer. Dann ist der ganze Strand voller Gäste. Ich kann freiwillige Helfer immer gebrauchen.“
„Vielleicht mache ich das“, sagte der Mann.
Die Frau war wieder hinüber zur Bar gegangen und schaltete den CD Player ein. Sie regelte die Lautstärke herab und nun klang die Musik unaufgeregt und störte die Atmosphäre nicht.
Der Mann war ebenfalls aufgestanden und stellte sich neben sie.
„Lass uns tanzen“, sagte er zu ihr und griff nach ihrer Hand. „Immerhin haben wir heute Sylvester.“
Die Frau legte ihren Arm auf seine Schulter und er griff ihr um die Taille. Es war ein Foxtrott, aber langsam genug, dass sie nicht darauf achten mussten, an die Tische zu stoßen.
„Das Lokal ist nicht zum tanzen eingerichtet“, sagte die Frau.
„Für uns beide wird es schon reichen“, antwortete der Mann und drehte sie sachte im Kreis. Die Frau ließ es geschehen.
„Vermisst du nicht manchmal deinen alten Job?“ fragte der Mann.
Die Frau sah an seiner Schulter vorbei zum Fenster. Vom Luftzug ihrer Bewegungen stießen die Kugeln der Weihnachtsdekoration an die Fensterscheibe und klingelten leise.
„Vielleicht zu Beginn“, sagte die Frau.
„Du weißt, dass du immer wiederkommen kannst“, sagte der Mann.
„Ich weiß“, sagte die Frau und sah wieder auf die Weihnachtskugeln, die sich nun an den Rhythmus des Tanzes gewöhnt hatten und das Glas nicht mehr berührten.
„Wir alle warten auf dich“, sprach der Mann weiter, aber die Frau sagte nichts mehr. Sie legte ihren Arm fester auf seine Schulter und lauschte auf den Rhythmus der Musik, wie er sich mit dem Atem des Lokals verband.
Nach einer Weile nahm die Frau ihre Hand von der Schulter des Mannes und wandte sich wieder der Bar zu.
„Möchtest du einen Espresso?“ fragte sie.
Der Mann sah sich ein wenig unschlüssig um.
„Ich glaube, wir sollten langsam wieder fahren. Sonst schaffen wir es nicht mehr rechtzeitig, um Mitternacht zurück auf der Party zu sein.“
Die Frau lachte und schaltete die Espressomaschine ein.
„Mach dir darüber keine Sorgen. Ich weiß etwas Besseres.“
Sie sagte ihm nicht, was das Bessere war, aber der Mann kannte die Frau lange genug, um ihre Entschlusskraft für außergewöhnliche Ideen zu erahnen. Die Espressomaschine summte leise und die Frau kam wieder um die Bar herum und sagte zu dem Mann:
„Pass du auf den Espresso auf. Ich bin gleich wieder da.“
Sie zog ihre Jacke an und öffnete die Tür. Sogleich drängte die kalte Luft wie zu Beginn des Winterschlussverkaufs herein. Die Frau umklammerte mit einer Hand ihren Kragen zu und ging hinaus.
Der Mann sah ihr durch das Fenster nach. Sie aber schien es zu ahnen und ging um das Haus herum, dass er sie nicht mehr sehen konnte. Er wunderte sich nicht mehr darüber. Sie tat immer das Unerwartete. So wie vor einem Jahr, als sie des Lokal kaufte. Als sie davon erzählte, hatte niemand wirklich geglaubt, dass sie es tun würde. Es hörte sich so fremd an.
Auf den Wandregalen standen die eingerahmten Bilder und da der Espresso nicht der Aufmerksamkeit bedurfte, betrachtete der Mann sie. Da waren Fotos von ihrer Familie und Schnappschüsse der Sommersaison am Strand; Augenblicke, in denen sie mit ihrer Sonnenbrille in die Linse lächelte. Selbst der alte Leuchtturm oben an der Serpentinstraße war fotografiert worden und reckte sich, so weit es ging, in den blauen Himmel hinein. Doch keines der Bilder erinnerte an ihren alten Beruf, für sie war auf den Regalen kein Platz mehr.
Als die Frau zurückkam, hatte der Mann sich wieder an den Tisch gesetzt. Sie blieb an der Tür stehen und blickte zu ihm hinüber.
„Komm!“ sagte sie.
Der Mann sah sie an.
„Komm!“ sagte sie wieder und wies mit dem Kopf hinaus.
„In die Kälte?“ fragte der Mann.
„Stell dich nicht so an“, sagte die Frau. Sie ging zu ihm hinüber und zog ihn bei der Hand.
Sie gingen gemeinsam über die Straße zum Strand. Es war so kalt, dass sich vor ihren Mündern der Atem zu leeren Sprechblasen formte. Der starre Sand knirschte unter ihren Füßen.
Der Mann grummelte etwas vor sich hin. Die Frau aber stieß ihn von der Seite an und er verstummte wieder. Sie gingen direkt hinunter zum Fluss und dort, fast so nah am Wasser, dass man hineingreifen konnte, standen zwei Liegestühle mit Decken.
Die Frau setzte sich und als der Mann sie fragend ansah, sagte sie:
„Die Decken sind warm genug.“
Der Mann setzte sich neben die Frau und das Wasser der Elbe gluckerte zu ihren Füßen, als würden sie direkt im Fluss sitzen. Die Frau zog eine Sektflasche und Gläser unter ihrem Liegestuhl hervor und öffnete die Flasche. Der Korken sprang aus dem Hals und klatschte auf das Wasser. Er machte sich auf seine Reise in die Nordsee.
Die Frau füllte die Gläser und reichte dem Mann eines davon. Auf der anderen Seite der Elbe erhob sich verschwommener Lärm wie über eine Langwellenfrequenz. Kurz darauf jagten die ersten Raketen in den Himmel empor und besprenkelten ihn mit Graffiti.
„Frohes, neues Jahr!“ rief die Frau und beugte sich zu dem Mann hinüber. Sie stießen vorsichtig mit den Gläsern an. Der Sekt war kalt, doch wärmer als die Luft und das genügte.
Dann lehnte die Frau sich in ihren Liegestuhl zurück und sah über den Fluss, auf dem das silberne Band des Mondes nun kleine Farbklekse erhielt. Sie roch den Atem der Elbe und wusste „Kathys Kate“ hinter sich. Dieses Jahr würde sie Terracotta Amphoren kaufen. Sie schloss die Augen und lauschte dem Zischen der Raketen. Alles war gut.
Unten am Strand
von Magnus Gosdek
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Interne Verweise
- Autorin/Autor: Magnus Gosdek
- Prosa von Magnus Gosdek
- Prosakategorie und Thema: Kurzgeschichten & Kurzprosa, Klassisch
Kommentare
Statt Psycho - Action: gut geschrieben!
(Eine Geschichte zum Verlieben!)
LG Axel
Magnus, zum Schluss habe ich langsamer gelesen, weil ich nicht wollte, dass es schon zu Ende sei ... Das ist wirklich Dein großes Talent, diese ruhigen Betrachtungen, bei denen sich so viel Unterschwelliges abspielt. Toll! (Kurze Frage: Was ist aus dem Espresso geworden?)
Haha, noé. Ich glaube, der ist inzwischen kalt und steht noch unter der Maschine :-)