Ein Blick auf William Carlos Williams - Page 2

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von Mitch Cohen

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Williams nach Kraft, Effizienz und Einheit des Gedichts. Ein Gedicht muss dahin gebracht werden, auf die eigene Weise zu funktionieren, nicht analog zu allen anderen Gedichten:

"Die paar unter uns, die vielleicht schreiben werden, [...] werden sich fürchten zu glauben, dass es sich im Schreiben genauso verhalten wird, wie in anderen Bereichen erfinderischer Aktivität, nämlich dass das Projekt noch nicht reif ist, bis Althergebrachtes ignoriert oder der Notwendigkeit untergeordnet worden ist. Nackte Aufmerksamkeit dem Ding selber gegenüber ist es, welche amerikanische Klempnerei, amerikanische Schuhe, amerikanische Brücken, Karteisysteme, Lokomotiven, Druckerpressen, Hochhäuser, landwirtschaftliche Werkzeuge und tausend andere Sachen in der Welt angesehen gemacht haben. Doch scheuen wir uns, zu glauben, dass in den Künsten Entdeckung und Erfindung den gleichen Weg nehmen werden. Und das werden sie auch nicht, es sei denn, unsere Schriftsteller haben die erfinderische Intelligenz unserer Ingenieure und Schuhmacher."

Williams’ Gedichte sind durch die Bank Erfindungen, nicht Kopien - Beschreibungen - von Natur ("Der einzige Realismus in der Kunst ist derjenige der Vorstellungskraft. Nur so entwächst die Arbeit dem bloßen Plagiat an der Natur, nur so wird sie Schöpfung"), noch Kopien der Formen anderer Dichter. Jedes Gedicht verlangt die einmalige Form, die zu seinem Sujet passt. Jedes Gedicht ist eine neue Situation, die eine neue Lösung verlangt. Williams: "Ich schreibe selten nach Regeln - einschließlich meinen eigenen."

Nach einer Jugend, in der er Tagebücher in einem pseudo-Keats oder whitmanesken Stil schrieb, verwarf Williams sowohl Reim ("Ich fand, dass ich mit Reimen nicht das sagen konnte, was ich zu sagen hatte") wie auch "free verse" , zugunsten seiner eigenen Erfindung, der "variable foot" (variierbarer Versfuß). Da er nicht nach Regeln schrieb, taucht Reim doch wieder auf in solchen Gedichten wie "St. Valentine", mit Endreimen, oder "The Dance" mit Binnenreimen. Und wo liegt der Unterschied zwischen dem verworfenen "free verse" und Williams’ "variable foot"? Der Inbegriff von "free verse" scheint Williams in Whitman zu finden, den Williams dafür lobt, dass er mit dem rigor mortis  der europäischen Formen brach, den Williams aber auch als schludrig und nachlässig in der Konstruktion schillt:

"Vers ist Maß, es gibt keinen ‘free verse’. Aber: das Maß muss eins sein, das mehr Vertrauen, größeren Spielraum zulässt als in der Vergangenheit. Es muss eine offene Formation sein. Whitman war nie ganz in der Lage, die Bedeutung seiner strukturellen Innovationen zu begreifen. Deswegen fiel er zurück in die vollgestopften Kataloge seiner späteren Gedichte und in eine Art Lockerheit, die keine Freiheit war, sondern Mangel an Maß. Auswahl, strukturelle Auswahl fehlte."

"Free verse war überhaupt kein Vers. Alle Kunst ist wohlgeordnet." Williams lehnte auch die Praxis ab, die er "das Flohhupfspiel mit den Silben" nennt. Dennoch schrieb er auch: "Unsere Gedichte könnten nicht in die strenge Ordentlichkeit der Klassiker eingefaßt werden." Der Begriff "variable foot" stimmt nicht überein mit dem gängigen Gebrauch des Begriffs "foot" (Versfuß), welcher nur in formeller Metrik benutzt wird. Fast alles in Williams’ Dichtung passt tatsächlich unter die Definition von "free verse"  - in Websters Collegiate Dictionary heißt es: "Verse, deren Metrum in irgendeiner Weise unregelmäßig ist oder deren Rhythmus nicht metrisch ist." Die eigentliche Unterscheidung zwischen "free verse" und "variable foot" liegt in den Konnotationen der Begriffe - doch dies ist ein wirklicher Unterschied. Williams wollte eine neue, sorgfältig aufmerksame Haltung gegenüber dem Machen von Gedichten erfinden, eine Haltung, die von den Kompositionsgewohnheiten, die der Begriff  "free verse" konnotiert, nicht gefördert wird.

Für Williams muss jedes Gedicht neu sein, auf eigenen Füßen stehen. Das Frische ist neu in Form. Das dauerhaft Lebendige ist aufmerksam gegenüber der Wirklichkeit, welche konkret und an den Ort gebunden ist. In der Suche nach neuen Formen und Treue zur Örtlichkeit war Williams ein Revolutionär.

Diese Art Revolutionär ist eine wiederkehrende Figur - so, wie die Christmas Greens  (Tannenzweige), die in dem gleichnamigen Gedicht verbrannt werden, in einem Jahr wieder da sein werden. Dante verwarf die Praxis, ausschließlich in Latein zu schreiben, und schrieb in der italienischen Umgangssprache; Wordsworth überwarf  "poetic diction" ("dichterische Diktion") für "the speech of real men" (die Sprache wirklicher Menschen); und Whitman schrieb nicht über "dichterische Themen", sondern über alles, was ihm unter die Augen kam. Alle erweiterten das Idiom. Williams ist genauso wenig bloß exzentrisch wie epigonal.

Ein Blick auf einige Williams’ Gedichte

The Dish of Fruit                                                       Die Schüssel Obst

The table describes                                                    Der Tisch beschreibt

nothing; four legs, by which                                     nichts; vier Beine, wodurch

it becomes a table. Four lines                                    er zum Tisch wird. Vier Zeilen

by which it becomes a quatrain,                                wodurch es zum Vierzeiler wird,

 

the poem that lifts the dish                                       das Gedicht, das die Schüssel Obst

of fruit, if we say it is like                                         hebt, wenn wir sagen, es ist wie

a table - how will it describe                                     ein Tisch - wie beschreibt das

the contents of the poem?                                         den Inhalt des Gedichts?

Falls der Körper des Gedichts nicht ausreicht, unterstreicht der Titel, dass es auf "die Schüssel Obst" ankommt. Im Gegensatz zu was? Zum Tisch, der für die Form des Vierzeilers steht. Die formellen Aspekte eines Gedichts, behauptet dieses, sind Mittel, um den süßen Genuss zu überreichen. Der "Lohn" ist konkret und aus unmittelbar Erlebtem,  nicht ein imaginäres Juwel aus Kublai Khans Lustschloss. Das Bild von einem Tisch, der existiert, um eine Schüssel zu heben (ein Schritt weiter, als sie bloß zu tragen oder ihr Platz zu geben) suggeriert, dass, auch wenn die Form zum Inhalt sich sekundär verhält, sie doch aktiv zum Gedicht beiträgt. Ohne vier Beine ist ein Tisch instabil;  ohne einen Tisch liegt das Obst auf dem Boden, dem Genießer weniger zugänglich und weniger appetitlich. Das Gedicht, als Vierzeiler geschrieben, spricht unmittelbar von sich selbst.

Play                                                                           Spiel

Subtle, clever brain, wiser than I am                         Subtiles, findiges Hirn, weiser als ich es bin,

by what devious means do you contrive                              durch welche gewundenen Wege biegst du es hin,

to remain idle? Teach me, O master.                         untätig zu bleiben? Lehre mich, O Meister.

Spielerisch ersetzen hier "Hirn" und "untätig bleiben"  Worte (vielleicht "Geist" und "ruhig zu sitzen"?), die diese Zeilen zur bekannt-anmutenden Bitte machte: die Bitte eines Novizen, zu Füßen eines orientalischen Gurus dem Weg zur Erleuchtung lauschen zu dürfen. "Hirn" einzuschleusen vertraut aber noch nicht dem Überraschungseffekt von "untätig bleiben". Williams wartet, so lange es geht, bevor er die Zeile mit der Pointe anfängt. Ironie wird auf Ironie geschichtet. Erstens, dass das Hirn weiser als "ich" sei: Williams glaubte das Gegenteil, und es ist schwer vorstellbar,  dass irgendeiner glaubt, nicht mindestens soviel wie sein Gehirn zu sein. Zweitens, ein "cleveres Hirn" ist, fast durch Definition, kaum ein "untätiges": und dieses Hirn geht sogar "gewundene Wege", kaum Untätigkeit. Drittens, dass ein universeller und universell verachteter Wunsch geäußert wird, aber im geäfften Klischee eines bedeutungsschwangeren, achtungsheischenden Genres.

To Be Closely Written On a Small Piece

Of Paper Which Folded Into A

Tight Lozenge Will Fit

Any Girl’s Locket

 

Lo the leaves

Upon the new autumn grass -

Look at them well . !

Zum Schreiben Auf Einem Kleinen Stück Papier

Das Zur Engen Raute Gefaltet In Das

Medaillon Irgendeines

Mädchens Passt

 

Siehe! die Blätter

Auf dem neuen Herbstgras -

Schau sie gut an . !

Der Titel ist viel länger als der Körper des Gedichts und beschreibt, was man mit den paar Zeilen machen kann. Ein Mädchen könnte geschriebenen Rat in ein Medaillon einschließen. In den drei Zeilen sind zwei Ratschläge erhalten: erstens, der Leser (ob Gedichteleser oder vorgestelltes Mädchen) soll seine Umgebung gut anschauen. Zweitens, er soll das Schicksal der Blätter bedenken, das Vergehen der Zeit und damit des Lebens. "Carpe diem" - eine Idee unterstützt durch den Hauch sexueller Anspielung in "Enger Raute...in das Medaillon Irgendeines Mädchens Passt". Der lange Titel ist ausgedehnte Vorbereitung; bis man das Vorbereitete erreicht, ist es schon fast vorbei, wie Herbstblätter.

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