Unter den in unserer Kulturgesellschaft herangereiften Kultur-Varianten, von denen die Leitkultur wohl eine der abstrusesten ist, nimmt die Streitkultur zweifellos einen besonderen Platz ein. Schon bevor es Leben auf diesem Planeten gab, stritten die vier Elemente, Feuer, Wasser, Luft und Erde um Raum und Vorherrschaft, mal mit-, mal gegeneinander. Das Grundprinzip allen Werdens und Vergehens, der Schöpfungsmotor, startete. Das alles kam bekanntlich ohne Kultur aus. Neues wurde geschaffen und wieder verworfen, weil anderes sich durchsetzte, die Chaos-Theorie beschreibt das eingehend.
Mit dem Attribut Kultur wird alles verbrämt, was von Menschen hergestellt oder verändert wurde. Ein genmanipuliertes und daher nicht mehr fortpflanzungsfähiges Gewächs ist eine Kulturpflanze. So lange es sich dabei um eine Rosenkreation handelt, die so vor Nachbau geschützt werden soll, ist dagegen wenig zu sagen. Geht es aber bei der kastrierten Pflanze um ein Nahrungsmittel, darf wohl von einer Kulturschande gesprochen werden. Öffnen wir uns also der Erkenntnis, daß nicht alles, was mit dem Anhang Kultur daher kommt, erstrebenswert ist.
Der Streit als wesentlicher Bestandteil einer sich weiterentwickelnden Schöpfung wurde von Menschen kultiviert, was Vor- und Nachteile mit sich brachte. Zu den Vorteilen gehört an erster Stelle die menschliche Intelligenz, die allerdings, wenn sie nicht vom Verstand im Zaume gehalten wird, durchaus ihre Nachteile hat. Wir können das beklagen, aber nicht ändern. Der kultivierte Streit beherrscht die Menschheit auf allen Ebenen, ermöglicht bahnbrechende Entdeckungen, vernichtet Völker, Tierrassen und Pflanzenarten nachhaltig. Er kann ebenso fruchtbar wie furchtbar sein.
Da lobe ich mir die Maschendrahtzaunkönige, die im Herbst die Blätter fremder Bäume auf ihrem eigenen Grund und Boden, vom Gulli bis zur Dachrinne aktenkundig machen und einen jeden Maulwurf erkennungsdienstlich überprüfen, ob er vielleicht ein Überläufer aus Nachbars Garten ist. Wird ein solcher Streit vom Zaun gebrochen, steht sogleich ein Heer von Rechtskundigen bereit, Streithähnen, -hammeln und –hanseln kostenträchtig durch die Instanzen zu helfen. Der Volksmund hat sich nicht lumpen lassen und auch zu diesem Thema einen Spruch bereitgestellt:
Glück hat man, man bekommt es nicht.
Recht bekommt man, wenn man Glück hat.
Es gibt Zeitgenossen, die würden auf einen Lottogewinn verzichten, wenn es ihnen gelänge, vom stolzen Hahn des Nachbarn eine Tonbandaufnahme zusammen mit der Zeitansage im eigenen Radio zu machen, um damit die Krähzeit des Federviehs zu dokumentieren. Anlaß zu einem Streit bietet nahezu alles, vom Automobil bis zur Zahnbürste. Er kann, wenn er nur gedanklich mit einem aus welchen Gründen auch immer unerreichbaren Gegner ausgetragen wird, durchaus zu Gesundheitsschäden führen, wenn keine Möglichkeit besteht, den Dampf abzulassen. Wird der Innendruck aus Gründen, die häufig nicht nachvollziehbar sind, aber zu hoch, können harmlose, in der Nähe weilende Mitmenschen die Explosion auslösen. Diese archaische Form des Ausbruchs eines Streits spiegelt sich schon in der Entstehungsgeschichte des Begriffs: strit, ahd. soviel wie starren, unbeweglich blicken. Tatsächlich ist das Fixieren einer anderen Person, die den Blick je nach momentaner Gemütslage mit einem unfreundlichen „Is‘ was?“ oder einem ausdrucksvollen „Was in die Fresse, oder?“ quittiert, häufig der Beginn einer Auseinandersetzung, die sich unversehens in eine handfeste Keilerei verwandeln kann. Obwohl vom Wortgeschlecht her männlich, wird der Streit gleichermaßen von Angehörigen beider Geschlechter gepflegt. Im verbalen Stadium artet er bei Frauen gern in Keifen und bei Männern in Brüllen aus. Wenn die Auseinandersetzung eskaliert, wird beim sogenannten starken Geschlecht der Schlag in die Fresse ohne weitere Nachfrage realisiert, was beim angeblich schwachen Geschlecht dem Griff in die Haare entspricht. Friseure sehen das nicht gern, wird doch die Hinfälligkeit ihrer teuren Kunst augenfällig. Bei einem solchen Handgemenge kann natürlich von Streitkultur im positiven Sinne keine Rede sein. Hingegen geschieht es immer wieder, besonders wenn die Gegner Zugang zu Kulturgütern in Form von Waffen haben, daß die negativen Seiten der Streitkultur offensichtlich werden.
Erhebliche Fortschritte auf dem Gebiet der militärischen Streitkultur haben im Laufe der Zeit dafür gesorgt, daß altertümliche Gerätschaften wie Streitkolben und -äxte (typisch mit asymmetrischer Schneide und feinpolierter Oberfläche) aus der Mode kamen. Der Trend geht mehr und mehr zu respektablen Massenvernichtungsmitteln, was bei der Menge an Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, gegeneinander aufgehetzt werden, von makabrem Vorteil ist.
Völlig anders, wenn auch nicht frei von perversen Einsprengseln, verhält es sich mit der konsequent dem Verbalen verbundenen Kultur des Streitens. Hier wurde von alters her auf geistiger Ebene in Wort und Schrift gestritten. Nicht zu Unrecht wird in diesem Zusammenhang auch heute noch von der Hohen Kunst des Streitens gesprochen. Das Wort, als Waffe vom deutschen Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in einer Weise mißbraucht, die Millionen Menschen das Leben kostete, wird im Streitgespräch zum Schlüssel, der die Türen zu neuen Erkenntnissen auf den Gebieten von Wissenschaft, Forschung und Technik öffnet. Daß auch hier Schierlingsbecher und Nobel-Preis dicht beieinander stehen, belegt wieder einmal, daß Licht und Schatten einander bedingen, und je heller das Licht ist, um so schwärzer die Schatten, die es umgeben.
Das hohe Gut des Streitens ist in Gefahr. In seiner edelsten Form, als Gelehrtenstreit, führte er einst zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, die, im stillen Kämmerlein herangereift, einer Eruption gleich von der Macht des Geistes zeugten. Die Tatsache, daß angesichts umwälzender Entdeckungen, unseren Planeten und seine Einordnung in das Gefüge des Weltalls betreffend, die Milch der frommen Denkungsart in manchen Hirnen sauer wurde, forderte Opfer unter Wissenschaftlern und Laien. Vom Bannfluch bis zum Scheiterhaufen reichte das Arsenal von Maßnahmen gegen unliebsames, in Worte gefaßtes Gedankenstreitgut. Doch solche Vorgänge sind heutzutage Geschichte. Der Gelehrtenstreit früherer Zeiten wird kostenträchtig, hemmungslos und geheim zwischen den Forschungslabors großer Konzerne ausgetragen. Angeheizt von machtbesessenen Politikerhirnen könnte er diesen Planeten von Menschen befreien, noch bevor das ewige Leben für Vermögende in Sichtweite ist.
Wenn ich abschließend eine letzte Variante des kultivierten Streits anspreche, dann nicht zuletzt auch, um den schwarzen Schatten des Unabänderlichen ein freundliches Licht zur Seite zu stellen. Ich meine den sportlichen Wettstreit, wie er spätestens seit dem Beginn der Olympischen Spiele Bestandteil der Spaßkulturgesellschaft ist. Das Messen der eigenen Körperkraft und Reaktionsfähigkeit am gleichwertigen Gegner diente einst der Vorbereitung auf geplanten Angriff und notwendige Verteidigung. Diese martialischen Aspekte sind im Laufe der Entwicklung in den Hintergrund getreten. Das Regelwerk Wettstreitkultur dient dem fairen Ablauf der Kämpfe, die – von auf höheren Verwaltungsebenen leider ausufernden Ausreißern abgesehen – im allgemeinen friedlich verlaufen. Die Freude des Siegers, die Achtung vor dem Unterlegenen, die sich in einem Händedruck äußert, hebt sich wohltuend von zahlreichen anderen Facetten menschlicher Streitkultur ab.
Nachtrag:
Als der französische Mediziner, Humanist und Politiker Joseph Ignace Guillotin (1738 – 1814) das nach ihm benannte Hinrichtungsgerät vor der Nationalversammlung erläuterte (zeitsparende, nahezu schmerzfreie Behandlung) erntete er zunächst nur Hohn und Spott. Nach technischen Verbesserungen durch den Chirurgen A. Louis ( 1723 – 1792) wurde der deutsche Klavierbauer M. Schmidt mit der Konstruktion des ersten Funktionsmodells beauftragt. Neben anderen europäischen Ländern führten dann auch die meisten deutschen Länder westlich der Elbe das „Fallbeil“ constructed in Germany ein.
Seitdem nimmt Deutschland, was die ultimative Streitkunst betrifft, eine führende Rolle bei der Herstellung entsprechender Geräte und Hilfsmittel ein.
Die nahezu schmerzfreie Behandlung der Delinquenten per Guillotine wurde in späteren Expertisen angezweifelt. Alexandre Dumas d. Ä. (1802 – 1870) berichtet sogar in seinem Buch „Tausend und ein Gespenst“ darüber, daß die Henker die Sammelkörbe für die Köpfe häufiger als früher wechseln mußten, weil die Böden durchgenagt waren. Dies und auch der nicht belegte Bericht, die vom Henker nach der Abtrennung des Kopfes geohrfeigte Wange der Königin Marie Antoinette sei anschließend errötet, sprechen eher für postmortale Regungen.
Belegt ist allerdings, daß der Henker, der die ehemalige Königin dergestalt beleidigte, ebenfalls guillotiniert wurde. Was interessante Rückschlüsse auf das damalige „gesunde Volksempfinden“ zuläßt.