Nein, nein, eigentlich ist es viel zu heiß, um über Kunst zu reden: Unterm Dach sind es 45° C, hier, wo ich meinen Gedanken Freigang verordne, sind es um 30° C, unten, im Parterre sind es nur noch 22°. Und hätte unser Haus Zugang zu einem der hier zahlreichen Höhlensysteme, so langten wir nach einigen zehn Metern bei 16° C an. Aber das einzige, was unter unserem Haus an Hohlräumen bekanntermaßen stattfindet, ist die Zisterne, und die verfügt über keinen für Menschen geeigneten Zugang. Auch ist sie, wenn schon nicht naß, so doch feucht. Wenn ich mich nun trotzdem entschließe, das angesprochene Thema weiter zu verfolgen, dann nicht zuletzt darum, weil ich nicht weiß, was ich bei dieser Hitze sonst tun soll.
Große und größte Geister haben sich im Laufe der Jahrtausende bemüht, Aussagen zum Wesen der Kunst zu artikulieren. Platon, zum Beispiel, hatte mit der bildenden Kunst nicht viel im Sinn. Doch sah er in ihr zumindest die Vorbereitung auf höchste geistige Anstrengungen des Menschen. Die heute alles entscheidende Frage nach dem Marktwert stellte sich damals nicht, denn Kunst war ein Wert an sich. Das sollte sich, Platon sei es geklagt, ändern, als fleißige Händler den künstlerischen Wert neu definierten und in den Dienst der Vermögensbildung stellten. Fortan geriet die Kunst unter die Räder einer materialistischen Weltanschauung, wurde zum Wirtschaftsfaktor. Sachverständige ordneten ein, entdeckten und konstruierten Stilrichtungen und ganze Epochen. Die Kunst wurde vom bodenständigen Handwerk abgenabelt und in höhere Sphären gehoben. Klare Unterscheidungsmerkmale sorgen seitdem für Ordnung: Handwerk (nützlich), Kunsthandwerk (nützlich und schön), Kunst (nicht nützlich). Künstler sind weder nützlich noch notwendig... Nein, nein, das geht nun doch zu weit, man stelle sich einen Kunstmarkt ohne Künstler vor, einen Trend ohne Setter. Sicher, unter den Leuten, die von Kunst leben, ist die Anzahl der Kunstschaffenden verschwindend gering. Künstler sind ein notwendiges Übel, tote Künstler hingegen können sich zu Goldgruben...
„Über Kunst denkt und spricht man nicht bei Temperaturen über 20° “, wirft da mein Freund Wulf ein, „die Kühle entschärft dieses mehr als heikle Thema. Über 30° können Gehirnzerrungen, verschwitzter Beweisnotstand sowie neuronale Netze mit Löchern entstehen, durch die Gedanken und Geschriebenes spurlos entschwinden.“
Nun, wenn ich gelegentlich in den Feuilletons blättere, scheinen Temperaturen über 30° in den betreffenden Redaktionen an der Tagesordnung zu sein.
„Dies gilt nicht nur für Fragen der Kunst, sondern auch für solch letzte Fragen wie: Kostet der Himmel Eintritt? Muß einem Hirni, der mehr als dreimal heiratet...“ fährt Wulf fort und verunsichert mich – obwohl erst einmal verheiratet – so sehr, daß ich nicht einmal in der Lage bin, die Flinte samt Kimme im sprichwörtlichen Korn zu deponieren. Nein, ich klammere mich – es ist inzwischen etwas kühler geworden – an das gewählte Thema und beginne verzagt noch einmal von vorn. Was ist Kunst? frage ich mich und fasse das, was mir bekannt ist, in dürren Worten zusammen: Kunst ist ein Prädikat und wird sowohl auf Gegenständliches wie nicht Gegenständliches angewandt. Die naheliegende Vermutung, daß es sich dann um Angewandte Kunst handelt, ist allerdings ein Fehlschluß. Der Begriff Angewandte Kunst ist zweifellos eine Erfindung von Einordnungsneurotikern. Der Begriff Kunst an sich ist meines Wissens nicht gesetzlich geschützt, er kann frei und im Zusammenhang mit was auch immer verwendet werden und hat somit viel mit Kultur gemein. Karl Valentin, der nicht nur etwas von Semmelnknödeln verstand, hatte auch zu diesem Thema Grundlegendes zu sagen: Kunst ist schön – macht aber viel Arbeit!
Ein Klo zu reparieren, führe ich den Gedanken weiter, macht auch viel Arbeit, ist aber weder Kunst noch schön, sondern – notwendig. L‘art pour l’art, dieses geflügelte Wort, gern abwertend von Leuten gebraucht, deren ganzer Sinn nur auf Notwendiges gerichtet ist, kommt mir da in den Sinn. Ganz gewiß wäre die Menschheit arm dran, stände ihr nur Notwendiges zur Verfügung. Gleichwohl ist der größere Teil dieser Menschheit bestrebt, all das, was ihr von einer Schöpfung, die nach dem Zufallsprinzip arbeitet, angeboten wird, in Nützliches und Nutzloses aufzuteilen. Womit ich unversehens wieder da angelangt bin, wo mich mein Freund Wulf unterbrochen hat. Ebensowenig wie der Begriff Kunst ist auch die davon abgeleitete Bezeichnung Künstler geschützt oder an bestimmte Vorbedingungen gebunden. Und in der Einkommensteuererklärung impliziert sie als Berufsangabe in aller Regel eine negative Gewinn- und Verlustrechnung, denn, wie der Volksmund ganz richtig sagt: die Kunst hungert, womit vermutlich vorrangig der Produzent, der sogenannte Künstler gemeint ist. An dieser Stelle sei angemerkt, daß die Bezeichnung Kunstschöpfer (eine wohlwollende Überhöhung der Berufsbezeichnung Künstler) einer logischen Überprüfung nicht standhält: Die Schöpfung ist ein Gesamtkunstwerk und als solches lediglich in Teilen mehr oder weniger gut kopierbar. Der Künstler gestaltet mit Bausteinen, die ihm eine dynamische, an keine Vorschriften gebundene Institution an die Hand gibt, optisch, phonetisch und/oder durch Berühren wahrnehmbare Werke. Da er nur das ver- oder bearbeiten kann, was ihm zur Verfügung steht, kann das, was er geschaffen hat, schlechterdings auch nicht als Schöpfungsvorgang angesprochen werden.
„Habe ich mich klar ausgedrückt?“ würde einer meiner früheren Lehrer in dieser Situation abschließend sagen.
„Ja“, hätte ich mich beeilt zu antworten, damals, um unerwarteten Nachfragen seitens des Lehrkörpers zuvorzukommen, heute aber auch, weil mir die Logik der aufgestellten Behauptungen einleuchtet. Hätte ich sie sonst aufgestellt?
Wenn wir uns – Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, und ich, der ich diese Ansichten vortrage – nun darauf einigen können, daß alle Kunst künstlich ist, dann ist dies auch eine Rechtfertigung für den auf den ersten Blick vielleicht etwas unverständlichen Titel, den ich dieser Betrachtung vorangestellt habe.
Keinesfalls – und ich lege Wert auf diese Feststellung – möchte ich mit meinen Ausführungen den imaginären Wert eines Kunstwerks herabmindern. Ich behaupte aber, daß er von Betrachter zu Betrachter schwankt, daß der größere Teil aller Kunstwerke nie das Licht der Öffentlichkeit erblickt, und daß die Fähigkeit, sich von einem Kunstwerk faszinieren zu lassen, nicht an einen entsprechenden Bildungs- oder Ausbildungsstand gebunden ist. Dies in das Stammbuch jener, die sich nicht trauen, angesichts eines hochgejubelten Objekts, womöglich anläßlich einer Vernissage vom Feinsten, „Das sagt mir nichts“ zu äußern.
Gründlich, wie ich nun aber in manchen Dingen bin, möchte ich den Gedankengang hier nicht einfach enden lassen, sondern mich abschließend einem Thema zuwenden, das zumindest mit der bildenden Kunst untrennbar verbunden ist. Ich meine die Konservierung oder Restaurierung, oder wie immer man die Bemühungen, das Geschaffene – und vielleicht erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten als Kunst Erkannte und entsprechend Bewertete – zu erhalten, bezeichnen will. Denn unter natürlichen Bedingungen zerfällt auch das bedeutendste Werk irgendwann zu Staub, weil es sich, ich deutete es schon an, den Vorgaben einer sich ständig erneuernden Schöpfung nicht entziehen kann. Da mit diesem Vorgang unter Umständen auch ein finanzieller Wertverlust verbunden ist, wird ein technisch hoch komplizierter Aufwand betrieben, der den drohenden Zerfall zwar nicht aufhalten aber doch hinauszögern kann. Im Falle von gelegentlich stattfindenden Kriegen ist es auch üblich, den Schutz von Kunstwerken baulicher Art weit über den von Menschen zu stellen.
Erschwert wird die materielle Werterhaltung allerdings auch durch hinterhältige Kunstschaffende, die bewußt einen zügigen Zerfallsfaktor einarbeiten, was den Restaurator vor fast unlösbare Aufgaben stellt. In diesem Zusammenhang und aus juristischem Blickwinkel sei auch erwähnt, daß der bildende Künstler kein Recht hat, sein Veto gegen eine geplante Aufarbeitung des verkauften Werkes einzulegen. Auch die Behauptung, der Zerfallsfaktor sei wesentlicher Bestandteil seiner Kreation, wird von Justitia nicht positiv gewichtet. Eine eventuelle Lösung dieses Konflikts bietet sich vielleicht in der Richtung an, daß der Künstler selbst die für notwendig erachteten Arbeiten übernimmt und dafür entsprechend entlohnt wird. Natürlich bedeutet dies, daß Restauratoren nur noch mit Einwilligung des zuständigen Künstlers Hand an dessen Erzeugnis legen dürfen. Da aber Kunstwerke unter normalen Umständen und bei guter Pflege langsamer verfallen als ihre Hersteller, die im übrigen meist erst im höheren Alter marktfähig werden, woraus sich die Erhaltung ihrer Arbeiten zwingend ergibt, kann von einer bedeutenden Einkommenseinbuße seitens der restaurierenden Fachkräfte wohl nicht gesprochen werden. Und so paßt auch hier die schon erwähnte Anmerkung des unvergessenen Karl Valentin.
Doch auch Platon, welcher der bildenden Kunst immerhin Vorbereitungen auf höchste geistige Anstrengungen des Menschen attestierte, dürfte sich in seiner generellen Abneigung bestätigt sehen, wenn sich der Wert eines Kunstobjekts in den Augen des einen oder anderen vermögenden Besitzers nur noch als Aktie darstellt.