Vorurteile verurteilen

Bild von Dieter J Baumgart
Bibliothek

Vorurteile sind Einordnungshilfen – mal so ganz wertfrei betrachtet. Als solche werden sie automatisch bei der Nutzung von Informationen aller Art eingesetzt, und zwar nicht nur von unter- bis durchschnittlich begabten Köpfen. Angesichts einer stetig steigenden Flut unterschiedlichster Nachrichten mit und ohne Sinn ist selbst ein trainiertes Hirn überfordert, muß sich eines Vor-Urteils bedienen. So weit, so schlecht. Denn was dabei unter die Räder gerät, ist die gesunde Neugier. Und so gewöhnen wir uns das Fragen ab, weil wir Angst haben, für dumm gehalten zu werden. Wir lassen uns vorschreiben, was wir zu wissen haben, und lernen Antworten auswendig, denen keine Frage vorausging. Unsere Köpfe gleichen Windfahnen, reagieren automatisch auf die Hauptinformationsrichtung. Das Vorurteil wird zur Machete, zum Buschmesser, mit dem wir uns den Weg durch das Informationsgestrüpp frei schlagen. Ohne Rücksicht auf Verluste, denn neben, hinter und vor uns schlagen sie auch zu, und wer verletzt wird, schlägt gezielt zurück. Das ist die Welt, in der wir leben.
Der Mensch trägt sein natürliches Kommunikationsmittel, den Mund, nicht zu Unrecht im Gesicht, denn da kann er sich des Lächelns und all der anderen optischen Hinweise bedienen, um seinen Worten Ausdruck zu verleihen. Alles andere, was landläufig als Kommunikationsmittel bezeichnet wird, sind Hilfsmittel, welche die ursprüngliche Kommunikation reduzieren, bis am Ende nur noch Information übrig bleibt. Doch es kommt noch schlimmer, denn längst hat die Information die Herrschaft über die Kommunikation übernommen. Statt zu fragen: Wer bist du? gleichen wir die äußere Erscheinung unseres Gegenübers mit unseren gespeicherten Informationen ab und bilden automatisch ein Vor-Urteil, das dann auch gleich zum abschließenden Urteil wird. Denn fragen kostet Zeit, und Zeit ist Geld, nicht wahr? Soviel zum Vorurteil im zwischenmenschlichen Bereich.  
Wenn sich nun der moderne Mensch aus Bequemlichkeit, Zeitmangel oder Angst, sich zu blamieren, der Möglichkeit begibt, sein Gegenüber näher kennenzulernen und bei der Gelegenheit auch eventuell interessante Erfahrungen zu machen, dann ist das eine Sache. Wenn aber Volksverhetzer vorhandene Vorurteile nutzen, um Menschen gegeneinander aufzuhetzen, dann haben wir es doch wohl mit einem üblen Verbrechen zu tun, und es ist gleich, ob dabei Geld- und Machtgier oder die pure Lust an der Intrige die Ursachen sind.
Fest steht, daß die Informationsgesellschaft einen idealen Nährboden für Vorurteile bietet. Damit müssen wir leben, aber wir müssen uns nicht damit abfinden. Wenn wir nun den Mißbrauch des Hilfsmittels Vorurteil, wie er sich aus der voreiligen und unkontrollierten Anwendung auf Menschen ergibt, verhindern wollen, müssen wir uns über die Ursachen klar werden. Dummheit, Wut und Unverständnis sind da wohl an erster Stelle zu nennen. Dummheit wäre mit Aufklärung zu bekämpfen. Wut hingegen ist ein Ausnahmezustand, und als solcher zu vernachlässigen. In Verbindung mit Dummheit gleicht Wut allerdings dem  Effekt, wie er beim Gießen von Öl ins Feuer zu beobachten ist. Unverständnis ist eine charakterliche Fehlentwicklung, hat nichts mit Dummheit zu tun und ist vermutlich der hartnäckigste Schädling, was zwischenmenschliche Beziehungen betrifft, weil er gleichermaßen in allen Gesellschaftsschichten grassiert. Einziges Gegenmittel ist die Umwandlung in Verständnis, denn Verständnis für Menschen verhindert Vorurteile gegen Menschen.
Aufklärung über und Vermittlung von Verständnis für Mitmenschen sollte eigentlich die vornehmste Aufgabe einer jeden Menschengesellschaft sein, beginnend in der Familie und weitergeführt über Kindergarten, Schule und Beruf. Eine Forderung, die allerdings diametral zur praktizierten Leistungsgesellschaft steht. Außerdem ist sie zeit- und kostenaufwendig, weshalb sie auch gern von Staats wegen vernachlässigt wird. Das wiederum kommt bestimmten Gruppierungen, die sich mit der Verbreitung von Vorurteilen Vorteile verschaffen wollen, sehr entgegen. Seuchenherde bilden sich und führen letztlich in den Völkermord.

Mehr von Dieter J Baumgart lesen

Interne Verweise