Mein Südaffe und ich

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Ex oriente lux: Aus dem Osten
kommt das Licht. –
Der heiße Atem der Sonne bläst
in die Wiege der Menschheit.
Der Meeresspiegel ist gesunken:
Wir sind wieder – unterwegs …

meistens auf Bäumen. Ich sammle
Gräser, Samen und Wurzeln
für meinen Südaffen* und mich.

Er geht aufrecht und jagt.
Er schürt das Abendfeuer.
Er malt mit dem Blut, das aus
jenen Wunden tropft, die
uns wilde Tiere und Dornen reißen,
graue Felsen und Steine rot.
Ich kraule täglich sein Nackenfell ...
mehrere Stunden lang: So ausdauernd
zärtlich wird nach mir nur noch „Lucy“** sein.

Zwischen uns macht sich
tiefes Schweigen breit; es redet
von Liebe; wir haben viel Zeit,
aber andere Sorgen und
hören kaum hin.

„Es wird kommen der Tag,
von da an werdet ihr leben
und euch lieben wie Menschen“,
prophezeite Gott, während wir Eden
im Zweistromland passierten. –
Vor diesem Tag fürchten wir uns
wie vor der Pest.

Doch ja, wir verfügen über Werkzeug:
drei Steinäxte in verschiedenen Größen.
Mit der schärfsten erschlug mein Südaffe
seinen Vetter, der mir ans Fell wollte.
Wir hörten von Amerika, auch dort …
sollen ähnliche Sitten herrschen.

Behaltet uns in guter Erinnerung, Freunde.
Unsere Tage unter der Sonne sind gezählt.
Bedankt euch bei den Schweinen und Antilopen.
Sie fressen fast so viel wie zivilisierte Menschen
und lassen nicht einen einzigen Halm
in der Steppe übrig.

*"Australopithecus" (Vormensch) bedeutet soviel, wie "Südaffe". **„Lucy“ bezeichnet das 1974 im Afar-Dreieck (Äthiopien) entdeckte Teilskelett eines als weiblich interpretierten Individuums der Art Australopithecus afarensis. Das Fossil wurde benannt nach dem Beatles-Song Lucy in the Sky with Diamonds und – wie die sogenannte Erste Familie – auf ein Alter von 3,2 Millionen Jahren datiert. Quelle: Wikipedia

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