Liebe, Krieg & Jahreszeiten

Bild zeigt Angelika Wessbecher
von Angelika Wessbecher

Fensterkino

Nebelwand
hinter kahlem Geäst.
Der Ahorn
vor meinem Fenster
bemoost
wie eh und je.
Aus dem matschigen Boden
schauen ein paar Schneeglöckchen.
Trotz unruhiger Nacht
so sinnlos glücklich.

***

Feiern

Das Universum
entfaltet sich
unaufhörlich.
Wenn das Leben
ein Fest ist,
dann feiern wir.
Traurigsein kann ich später
immer noch.
Jetzt bin ich glücklich.

***

Guten Morgen Bakunin

Dein wuchtiger Schädel.
Die buschigen schwarzen Augenbrauen
wie Apostrophe.
Wacher Blick aus blauen Augen.
Hinter der Nickelbrille
der trotzig geschlossene Mund,
umrahmt vom
wild wuchernden Bart.

Guten Morgen Bakunin.
Du hast einen Stein im Brett
bei mir.

***

Zweifel

Da läufst du jetzt
durch Innsbruck
in dieser Eiseskälte.
Ich sitze hier im Warmen
und mache mir schöne Gedanken.
Geht’s dir gut da in Innsbruck?
Mein Herz.

***

Wunder

Dein schwarzes Herz
mit dem leidenschaftlichen
roten Kern.
Feine Verbindungen
rüber zu meinem Herz.
Ich habe nach dir gerufen
und du kamst.
Muffig und ungnädig,
aber du warst da.

***

Ostersonntag

Graupelschauer von schräg rechts.
Zwei Parallelen
schneiden sich
im Unendlichen.

Das gibt Anlass zu Hoffnung.

***

Vater

Du lagst auf deiner Couch
und hast dir Beethoven reingezogen,
genüsslich,
während ich
am Abgrund stand.

Der Krieg war die schönste Zeit
in deinem Leben,
sagtest du.

Als ich den Bildband über Bergen-Belsen
aus der Bibliothek holte,
hast du gebrüllt:
„Das ist doch alles vorbei!“

Du hast es dir gut gehen lassen,
während ich am gedeckten Tisch
verhungerte.

Meine Wut
ist im Schmerz gefroren.

Vater?
Ich gehe jetzt.

***

Dissonanz

Meinen Strawinsky
nanntest du
„Katzenmusik“.
Als die Bilder
von den Studentenrevolten
über den Schwarzweißfernseher
flimmerten damals, schriest du
„Ab ins Arbeitslager!“.

Genüsslich studiertest du
deine Bücher über die Schlacht
in Stalingrad,
die Kopfhörer aufgesetzt,
um die Eroica zu hören.

Bei unserem letzten Telefonat
schleudertest du mir entgegen:
„Du hast ja ein krankes Gehirn,
geh doch mal zum Psychiater.“

Das ironische Zucken deiner Mundwinkel.

Das gefrorene Entsetzen
in deinem Blick.
Was hast du damals gesehen in Struthof?

***

Krieg spielen

Du saßest im Schützenpanzer
und hast gefeuert.
Krieg spielen.
Der Gegner abstrakt.

Ein paar Leben hin oder her,
das war dir egal.

Deine Seele
mit einer Hornschicht überzogen.
Der kleine verunsicherte Junge
auf dem Kindheitsfoto
Vergangenheit.

Jetzt warst du am Drücker
und hattest die Macht,
Leben auszulöschen.
Heissa, das war ein
spannendes Spiel.

Väterchen?
Nachts, wenn du
nicht schlafen kannst,
denkst du dann zurück
an den Krieg?

***

Schach

Das Feld
fast abgeräumt.

Der alte König
reizt es aus
bis zum Letzten.

Ich versuche,
dich in die Enge zu treiben,
damit du mir nicht mehr auskommst.

Irgendwann wird das Spiel aus sein
und ich werde an deinem Grab stehen.
Ob ich weinen werde,
kann ich dir nicht versprechen.

***

Pokern

Alles auffahren,
geistesgegenwärtig,
dich aufspüren
in deinem Schlupfwinkel.

Zeit gewinnen,
Aufschub.
Und mit ein bisschen Glück
kassiere ich dich ab.

***

Schlagschatten

Du wirfst deinen Schatten auf mich,
Zerstörer, Hasserfüllter.

Du begleitest mich schon so lange,
dass ich deiner überdrüssig bin.

Du bist langweilig.
Ich habe dich gesehen
in all deinen Schattierungen:
mittelgrau, bleigrau, dunkelgrau, tief schwarz.

Aber sobald ich meine Taschenlampe anknipse, verschwindest du, Vollidiot.

***

Befreiung

Lange genug
hast du gewütet
in meiner Seele.

Hast Unruhe
und Chaos gestiftet,
mein Leben vergiftet.

Ich habe dich dem Gericht
überantwortet.
Vater?
Der Krieg ist vorbei.

***

Wettlauf

Ich schreibe an
gegen die Flut
meiner Erinnerungen.

Noch bin ich
auf der Sollseite.

Aber ich werde
so lange schreiben,
bis meine Niederlage
sich verwandelt
in Gewinn.

***

Kinderbild

Du stehst aufrecht,
die rechte Hand geballt.
Die Linke umfasst
den Kopf des Löwen,
der Ringfinger
über den kleinen Finger gekreuzt.
Du lächelst.
Der Schmerz
kann dir nichts anhaben,
kleine Kriegerin.

***

Partisanenliebe

Wir verstecken uns
in den Wäldern um Minsk.
Die Front dröhnt in der Ferne.

Die Lebensgefahr
steigert unsere Lust.

Ich trinke deine Küsse
und verfange mich
mit den Händen
in deinem haarigen Körper.

Gefährten sind wir
Auf Leben und Tod.

***

Grenze

Mein Herz
umgeben von
Panzersperren und Stacheldraht.
Wer die Demarkationslinie
übertreten darf,
bestimme nur ich.

***

Real

Du warst da,
voll präsent
und hinterließest
beim Abschied
den Geschmack
von Bartstoppeln
auf meinem Mund.

Wir haben uns wiedergefunden.
Der Vater aus dem Fokus gerückt.
Du befriedest mein Herz,
Mon Amour.

***

Trost

Während ich
Schach spielte
mit dem Tod
hat sich
der Urwald vor meinem Fenster
verdichtet.

Die Misteln
die ein Versprechen waren,
verdeckt vom Blättergrün

Das macht’s einfacher,
wenn ich an dich denke,
mein Herz.

Heiraten können wir
immer noch später
in der Ewigkeit.

***

Erinnerung

Der Frühling
ist nicht
wirklich angekommen bei mir.

Der Eispanzer
des Winters
und die Dunkelheit
schützte unsere Liebe,
die so zart und zerbrechlich war.
Meine Raunachtliebe.

***

Morgen in Schwabing

Pappelblätter
flackern im Licht.
Das Fenster
vom Pollenstaub
verdreckt.
Instantkaffee.
Weitermachen.

***

Abend in Schwabing

Pappelblätter
zittern im Wind.
Auspuffgedröhn.

Vom Bürgersteig her weht
der Geruch von Shisha-Pfeifen hoch.
Lebendigsein.

***

Vergessen

Wenn ich fliehe,
wirst du mich dann suchen?

Oder hast du mich
schon vergessen?
Mein Herz.

***

Katz und Maus

Immer
wenn ich
dich abgeschrieben habe,
deine samtweiche Stimme
auf meinem
Anrufbeantworter.

Schattenmann.

***

Nebenwege

Du suchst mich
da, wo ich
nicht bin.

Ich aber
habe es aufgegeben,
auf die spärlichen
Bekundungen
deiner Existenz
zu warten
und gehe
auf Nebenwegen.

***

Nicht hier

Ich sitze hier.
Vor dem Fenster
der flimmernde Dschungel.

Du liegst jetzt
in deiner Höhle
voll mit Zeitungen
und schläfst.

Schattenmann.

***

Warten

Schattenmann,
Schattenmann
ruft nicht an,
ruft nicht an.

Oder die Schwierigkeit,
mit dem Realmann
eine Verabredung
zu treffen.

***

Verstecken

Du kauerst
auf dem Boden.
Zusammengefaltet,
unsichtbar.

Schattenmann,
oh Schattenmann.

***

Schuld

Worte,
die gefallen sind,
schwer wie Steinbrocken,
verletzend,
unwiderruflich,
unverzeihlich.

Werde ich bestehen,
wenn einmal
abgerechnet wird?

Gibt es Gnade
für mich?

***

Morgenstimmung

Die
Türkentaube ruft.
Ein Aggregat summt
leise. Morgenfrieden breitet sich
aus.

***

Sommernacht

In der Ferne
rauscht die Ringstraße.
Ein Güterzug hupt.
Die Nacht
besänftigt
alle Gedanken
und Gefühle.
Nachtfrieden.

***

Regentag

Heute
regnet es
was das Zeug
hält. Macht aber nichts.
Regen.

***

Wiedersehen

Deine Augen
blitzten
hinter der Nickelbrille.
Das Gesicht
überwuchert vom
ergrauten Bart.

Denkst du
manchmal zurück
an unsere Umarmungen?

Dein Abschiedsgruß
ein Versprechen
auf ein baldiges
Wiedersehen.

***

Depression

Neonröhren
senden gleißendes
Licht. Es riecht
nach Desinfektionsmitteln. Hoffnungslosigkeit würgt
mich.

***

Warten

Stille
schreit. Leere
schmerzt. Zeit bröckelt,
tropft, rinnt. Wann kommst
du?

***

Finale

Der
Wind heult
im Lüftungsschacht. Das
Jahr taumelt dem Ende
entgegen.

***

Du bist jetzt Vergangenheit

Deine
Küsse im
Postcafé schmeckten nach
Kakao. Draußen stürmte es.
Novemberglück.

.

Der vorliegende Gedichtzyklus entstammt einem Online-Tagebuch, das die Autorin von Februar bis November 2018 führte. "Liebe, Krieg & Jahreszeiten" zeichnet das Werden und Vergehen einer Liebesbeziehung, die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit des Vaters und den Fortgang der Jahreszeiten nach.

Copyright bei der Autorin

Gedichtform: 
Thema / Schlagwort: 
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