Bei uns auf der Gass’ klang oft der Gesang vom Schorsch, dem Leierkastenmann. Mit seiner Drehorgel, Frack und Zylinder begeisterte er ganz besonders uns Kinder. So hat er gesungen, so hat es geklungen:
„Liebe Leut’! Ich erzähle euch heut’ in der Tat vom tumben Falk eine Moritat. Es folgt seine Leidensgeschichte. Sie liegt schon lange zurück. S’ist wichtig, dass ich berichte, er hatte im Leben kein Glück. So dachten Falks Schwestern: S’ist herrlich, zu lästern, ihn schlecht zu schwätzen, ganz ohne Gefahren, Falk hört es nicht, es tut ihm nicht weh, man sagt’s ihm ja nicht in’s Gesicht, er wird’s nie erfahren, auch versteh’n kann er’s nicht, das Gerücht, er sei nicht ganz dicht, in der Schule schon sei er ‘ne Niete gewesen, gekonnt hab’ er weder rechnen noch lesen, er würde saufen, beim Zahlen betrügen, stehlen statt kaufen, fortwährend lügen, nicht erst seit gestern. Es gab das Gemunkel, er sei andersherum, treib’ sich im Dunkel am Bahnhof herum. Die Schwestern war’n sich da einig, ein Bruder wie der ist uns peinlich. Falk dachte, ich bin nicht normal, nicht in der Spur, ich störe nur. Er konnt’ sich nicht wehren, ihm fehlte der Mut und auch der Verstand, er konnt’ nichts erklären, war verbal nicht so gut, begriff nicht, was die Schwestern da treiben. Ihm schien ein einziger Weg zu bleiben. Und den ging er auch. Sehr konsequent hat er sich eines Tag’s in sei’m Keller erhängt. Schwarz verhüllt dann am Grabe die Schwestern, sie weinten laut vor sich hin, sie greinten, erzählten, für Falk sei’s so besser, jetzt brauch’ er sich nicht mehr zu quälen, für den Armen fühlten sie plötzlich ganz viel Erbarmen. Aus dem Leben stammt die Geschichte. Es ist wichtig, dass ich berichte. Weil die Menschen so sind. Vom Greis bis zum Kind.“
Dann zog der Mann den Zylinder vom Kopf, er benutzte ihn als Geldsammeltopf, und sagte, in einem Jahr komm’ ich wieder, dann singe ich euch neue Lieder.
Seit Beginn des 18. Jahrhunderts zogen Straßenmusikanten mit ihren Drehorgeln, auch Bänkelsänger genannt, durch deutsche und europäische Lande. Eine Blütezeit erlebte die Drehorgel als Bettelinstrument in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die österreichische Kaiserin Maria Theresia erteilte Kriegsinvaliden nach dem Siebenjährigen Krieg Lizenzen, um „mit einer Drehorgel Erwerb zu suchen“. Preußen machte es später den Österreichern nach. Mit der Einführung der Gewerbefreiheit wurden Drehorgelspieler ab 1810 als Gewerbetreibende eingestuft und Bewilligungen erteilt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergrößerte sich die Zahl der Drehorgelspieler stetig. Berlin entwickelte sich in dieser Zeit zu einer der Hochburgen des Drehorgelbaus in Deutschland, bis zu 3000 Drehorgelspieler zogen durch die Berliner Straßen. Wenn der Leierkastenmann seinen von der Drehorgel begleiteten Gesang begonnen hatte, öffneten viele Bewohner der mehrstöckigen Mietskasernen ihre Fenster und warfen ihm Kleingeld zu. Bis in die 1920er Jahre blieb der Leierkastenmann ein gewohnter Anblick im Straßenbild der großen und kleinen deutschen Städte, auch wegen der schwierigen Lebensverhältnisse in der Nachkriegszeit. Erst in den 1930er Jahren verschwanden die Drehorgeln aus dem Straßenbild. In den Mangelzeiten nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch zogen Drehorgelspieler noch einmal für ein paar Jahre mit ihren gesungenen Moritaten durch Städte und Dörfer und erfreuten Erwachsene und Kinder.