Kaddisch* für „Gefallene“

Bild von Annelie Kelch
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In den Nächten fallen die Blätter leichter …
Nur Mond und Sterne silberhell
schauen ihnen zu und schenken letzten Glanz.

Fallen heißt auf Deutsch: Niederlage.
Blätter, unendlich viele – gefallene Mädchen
aus vergangenen Jahrhunderten verendet
auf Straßenpflastern, Wegen, Wasseraugen.
Gefallene jener Kriege, die der Herbst
jedes Jahr aufs Neu beginnt.

Wind spielt mit totem Laub …
Wir geben den Blättern den letzten Tritt,
stampfen sie in die Erde, sie fallen
ins Nichts, weniger noch als Nirwana ...

Auch die vergangene Zeit fällt ins Nichts …
„Morgen“ ist bereits Vergangenheit
Herbst ist Vergangenheit, der Winter
webt schon das Leichentuch.
Menschen, die in der Gegenwart leben:
Vergangenheit. Wir zwei: Vergangenheit
Ich – bin Vergangenheit
Wir alle: Blätter am Baum des Lebens.

Blätter – gefallene Worte,
vom Baum in den Wind gesungen, einst,
als der Sommer noch jung war …

Ich versuche zu lesen, zu verstehen ...
die Jahresringe nachzuzeichnen, Kerben im Stamm.
Ungelöste Rätsel. Wann endlich: Das Wörterbuch
„Baumsprache“. Ach, ihr entdeckt so vieles
Tag für Tag … mehr Schund als Gutes.

Nun sind die Bäume stumm,
der Wald: ein einziges Schweigen.
Ihre Nacktheit im Winter: ein dunkler stummer Vorwurf.
Schatten des Herbstes. Ich – mit gesenkten Augen
an ihnen vorüber; kein Blatt winkt mehr, sie fallen ...
ohne Protest, leiden still – Patienten, Opfer des Herbstes.
Ich wünschte, wir könnten sie schmücken mit Lichtern, alle;
aber es gibt nur wenige Auserwählte.

Auch dieses Jahr werden viele gefällt zum Fest aller Feste.
Wenige Tage später liegen sie auf Trottoirs, an Straßen:
tot, vergangen, haben ihre Schuldigkeit getan,
sind nur mehr Gefallene, Müll, Abtransportierte –
Vergangenheit längst.

*Kaddisch: Lobgebet, das zu jüdischen Begräbnissen und Gedenktagen als Totengebet gesprochen wird.

Interne Verweise

Kommentare

25. Okt 2017

Gefallen hat auch Dein Gedicht -
Das fein von Lebens-Bäumen spricht ...

LG Axel

25. Okt 2017

Dank, lieber Axel, dir, für deinene Kommentar.
Gar mancher "seinen Baum" "verflucht" sogar!
Nur weil er nadelt und sich wehrt - mit Haut und Haar.

LG Annelie

25. Okt 2017

Du beziehst dich auf den jüdischen Kaddisch, das Gebet, das, wie ich recherchiert habe, im Aufbau und Sinn dem christlichen Vaterunser ähnelt, dem Gebet aller Gebete. Dein Prosagedicht habe ich aufmerksam gelesen, liebe Annelie, es stimmt mich nachdenklich. Liebe Grüße - Marie

25. Okt 2017

Danke, liebe Marie, für deinen Kommentar. Möglicherweise ist dieses Gedicht unter dem Einfluss folgender Lektüre entstanden:
"Liverpool Street" von Anne C. Voorhoeve. Dieses Buch ist nicht nur sehr gut vom Inhalt her, sondern darüber hinaus ab der ersten Seite spannend. Ich hoffe, dass Anne die Spannung aufrechterhalten kann. Es ist ein sehr dickes Buch und liegt mir im Taschenbuchformat vor. Die Handlung ist aber auch zum Teil sehr grausam: Zum Beispiel, dass Franziska, DIE Protagonistin (am Anfang noch Schülerin), auf einer Kinderparty von Richard, einem Klassenkameraden, geküsst wird und wenige Tage später, nachdem er erfahren hat, dass sie Jüdin ist, noch getreten wird, als sie bereits auf dem Boden liegt - wie ein Blatt im Herbst. Ich habe dieses Buch sehr, sehr günstig bei Woolworth gekauft. Nicht allein Buchhandlungen verkaufen gute Bücher.

Liebe Grüße,
Annelie

25. Okt 2017

Ein schönes Gedicht, liebe Annelie, ein schönes Bild. Man kann sich über deine Zeilen so manche Gedanken machen.

Viele liebe Grüße
Soléa

25. Okt 2017

Danke, liebe Soléa, für deine lieben Worte. Mach dir aber bitte nicht zu viel Gedanken, damit du gut schlafen kannst.

Liebe Abendgrüße,
Annelie